300 Zur Genealogie der Moral
unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen.] Die bei N. ja ohnehin schon früh
angelegte Fokussierung auf Machtperspektiven dürfte hinsichtlich der Gerech-
tigkeit durch das Studium von Strickers Physiologie des Rechts weiter genährt
worden sein. Dieser geht von einem ursprünglichen „Machtbewusstsein" aus,
das in den „Beziehungen des Willens zu den Muskeln" gründet. Jedoch würde
„ebenso wenig wie aus dem unbefruchteten Ei ein Embryo, [...] aus der Macht
allein jemals die Rechtsidee entsprungen sein. Zu unserem Machtbewusstsein
musste sich noch eine zweite Erfahrung hinzugesellen, um der Rechtsidee
den Ursprung zu geben. Diese zweite Erfahrung besteht darin, dass auch die
anderen Menschen Macht besitzen und im Stande sind, unsere eigene Macht-
entfaltung zu hemmen." (Stricker 1884, V) Macht ist für Stricker immer auch
gehemmte Macht; jeder muss seine Machtansprüche mit den Machtansprüchen
anderer korrelieren, wenn er denn nicht als Einsiedler lebt. „Die Ideen von der
eigenen Macht und der Macht der anderen Menschen bilden also gleichsam
die Keime der Rechtsidee. Noch bedurfte es aber dann der günstigen Bedingun-
gen, um die verknüpften Keime zur Reife zu bringen. Und diese Bedingungen
wurden durch den geselligen Verkehr, respective durch unsere Neigung ge-
schaffen, im geselligen Verkehr zu leben. Dieser Verkehr wird nur dadurch
möglich, dass sich die Menschen gegenseitig Concessionen machen, und die
gegenseitigen Concessionen, respective die daran geknüpften Verträge, sind
es, welche das Bewusstsein der Macht in ein Bewusstsein des Rechts umgestal-
tet haben." (Ebd., VI) Stricker zufolge bildet der „Machtbegriff" „einen uner-
lässlichen Bestandtheil des Rechtsbegriffes" (ebd., 68): ,„Mein Recht deu-
tet die mir von einem bestimmten Menschenkreise zugemes-
sene Freiheit an, in bestimmten Fällen meinen Willen zur
Geltung zu bringen."' (Ebd.) Stricker nimmt die Argumentation von
GM II 8 insofern vorweg, als er die Setzung von Recht ebenfalls als Machtaus-
gleichsmechanismus versteht, wobei es ihm nicht auf die soziale Schichtung
ankommt, auf die 306, 32-307, 2 anspielt, indem „ungefähr Gleichmächtige"
von „weniger Mächtigen" unterschieden werden. In Strickers Konzept ist der
Machtradius jedes Individuums in Gesellschaft notwendig immer beschränkt;
soziale und rechtliche Interaktion zielt ihm zufolge darauf ab, den eigenen
Machtradius zu vergrößern, ohne selbst machteinschränkende Sanktionen
fürchten zu müssen.
9.
Die in GM II 8 behauptete Priorität des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses im
zwischenmenschlichen Umgang wird jetzt als Modell für das anfängliche Ver-
unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen.] Die bei N. ja ohnehin schon früh
angelegte Fokussierung auf Machtperspektiven dürfte hinsichtlich der Gerech-
tigkeit durch das Studium von Strickers Physiologie des Rechts weiter genährt
worden sein. Dieser geht von einem ursprünglichen „Machtbewusstsein" aus,
das in den „Beziehungen des Willens zu den Muskeln" gründet. Jedoch würde
„ebenso wenig wie aus dem unbefruchteten Ei ein Embryo, [...] aus der Macht
allein jemals die Rechtsidee entsprungen sein. Zu unserem Machtbewusstsein
musste sich noch eine zweite Erfahrung hinzugesellen, um der Rechtsidee
den Ursprung zu geben. Diese zweite Erfahrung besteht darin, dass auch die
anderen Menschen Macht besitzen und im Stande sind, unsere eigene Macht-
entfaltung zu hemmen." (Stricker 1884, V) Macht ist für Stricker immer auch
gehemmte Macht; jeder muss seine Machtansprüche mit den Machtansprüchen
anderer korrelieren, wenn er denn nicht als Einsiedler lebt. „Die Ideen von der
eigenen Macht und der Macht der anderen Menschen bilden also gleichsam
die Keime der Rechtsidee. Noch bedurfte es aber dann der günstigen Bedingun-
gen, um die verknüpften Keime zur Reife zu bringen. Und diese Bedingungen
wurden durch den geselligen Verkehr, respective durch unsere Neigung ge-
schaffen, im geselligen Verkehr zu leben. Dieser Verkehr wird nur dadurch
möglich, dass sich die Menschen gegenseitig Concessionen machen, und die
gegenseitigen Concessionen, respective die daran geknüpften Verträge, sind
es, welche das Bewusstsein der Macht in ein Bewusstsein des Rechts umgestal-
tet haben." (Ebd., VI) Stricker zufolge bildet der „Machtbegriff" „einen uner-
lässlichen Bestandtheil des Rechtsbegriffes" (ebd., 68): ,„Mein Recht deu-
tet die mir von einem bestimmten Menschenkreise zugemes-
sene Freiheit an, in bestimmten Fällen meinen Willen zur
Geltung zu bringen."' (Ebd.) Stricker nimmt die Argumentation von
GM II 8 insofern vorweg, als er die Setzung von Recht ebenfalls als Machtaus-
gleichsmechanismus versteht, wobei es ihm nicht auf die soziale Schichtung
ankommt, auf die 306, 32-307, 2 anspielt, indem „ungefähr Gleichmächtige"
von „weniger Mächtigen" unterschieden werden. In Strickers Konzept ist der
Machtradius jedes Individuums in Gesellschaft notwendig immer beschränkt;
soziale und rechtliche Interaktion zielt ihm zufolge darauf ab, den eigenen
Machtradius zu vergrößern, ohne selbst machteinschränkende Sanktionen
fürchten zu müssen.
9.
Die in GM II 8 behauptete Priorität des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses im
zwischenmenschlichen Umgang wird jetzt als Modell für das anfängliche Ver-