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368 Zur Genealogie der Moral

und eine Menge suggestive Fakta enthält: Julius Lippert, Christenthum,
Volksglaube, Volksbrauch (Hofmann in Berlin, 1882.)" (KSB 7/KGB III 3,
Nr. 684, S. 171, Z. 36-41) Dort heißt es z. B.: „Die Versöhnung der Geister der
Verstorbenen durch die Darbringung der ihnen nach den Anschauungen der
ältesten Volksphysiologie nöthigen Pflege, das ist jener älteste Schuldposten,
der allmählich ins Unermessliche angeschwollen, mit den entwickeltsten Cult-
acten nicht mehr zu tilgen schien. Ehe noch der Urmensch auch nur die Ah-
nung eines Begriffs von einer ethischen Schuld — wir haben leider keine
Worte für die einzelnen Begriffsstufen — hatte, kannte er diese Schuld — auch
unser Wort drückt ja nur ein Sollen aus — und von ihr aus entwickelte sich
ihm der Begriff der Sünde, Sünder. Dieser fehlt zunächst ganz das subjecti-
ve Moment des Verschuldens', sie ist nur ein objectives ,Schuldigsein'." (Lip-
pert 1882, 17, vgl. auch Orsucci 1992, 218, der diese Stelle mit NL 1885/86,
KSA 12, 1[46], 21 [vgl. KGW IX 3, 151, 5-152, 24] in Verbindung bringt. Der bei
Lippert unmittelbar vorangehende Passus ist zitiert in NK 389, 31-390, 2.) N.
hat offenbar vorgehabt, Lippert eines seiner Bücher schicken zu lassen
(NL 1885/86, KGW IX 5, W I 8, 2, 30).
327, 25-32 Hier herrscht die Überzeugung, dass das Geschlecht durchaus nur
durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht, — und dass man ihnen
diese durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat: man erkennt somit
eine Schuld an, die dadurch noch beständig anwächst, dass diese Ahnen in
ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte neue
Vortheile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren.] Vgl. NK 327, 18-22 f.
Orsucci 1996, 213-215 weist nach, dass N. bei seiner ersten intensiven Beschäf-
tigung mit dem Ahnenkult 1875 im Rahmen seiner Basler Lehrtätigkeit nament-
lich die Bücher von Heinrich Nissen über Das Templum (1869) und von Carl
Boetticher über den Baumlailtus der Hellenen (1856) als richtungsweisend nutz-
te. Gerade die Idee einer Vergöttlichung des Ahnen (vgl. NK 328, 26 f.) ist bei
Boetticher bereits präsent. N.s Interesse wurde später, wie Orsucci 1996, 216
zeigt, weiter entfacht durch die Lektüre von Spencers Thatsachen der Ethik, in
denen es nicht so sehr um Moralvergangenheiten geht, sondern um die Erklä-
rung, warum es um die Moralgegenwart so bestellt ist, wie es um sie bestellt
ist: „Die sittliche Richtung, welche mit Recht als bis heute fortlebender Reprä-
sentant der ältesten Schule betrachtet werden kann, ist diejenige, welche kein
anderes Gesetz anerkennt als den vermeintlichen Willen Gottes. Sie fängt mit
dem Wilden an, welcher, von der Furcht vor seinem Nebenmenschen abgese-
hen, kein anderes einschränkendes Princip kennt als die Furcht vor dem Geist
eines Vorfahren und dessen Begriff von sittlicher Pflicht, soweit er sich von sei-
nem Begriff von socialer Klugheit unterscheidet, einzig /54/ aus dieser Furcht
entspringt." (Spencer 1879, 53 f.) In W II 1, 105, 17 (KGW IX 6) heißt es: „Für das,
 
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