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Stellenkommentar GM II 20, KSA 5, S. 328-329 373

In der Exposition von GM II 20 bleibt auch undeutlich, warum die Unter-
schichten psychologisch überhaupt ein Bedürfnis und ein Interesse gehabt ha-
ben könnten, nicht nur die religiösen Schuldkomplexe ihrer Herren zu repro-
duzieren, sondern sie sogar noch zu potenzieren: Ihre Situation in der Welt,
als Zurückgesetzte und Erniedrigte, dürfte sie kaum dazu prädestiniert haben,
irgendjemandem - und sei der ein Gott - für ihr So-Sein dankbar zu sein und
sich in seiner Schuld zu fühlen. Bei Erfindung der „Sklaven-Moral" sollen diese
Schichten nach der Analyse in der Ersten Abhandlung zwar reaktiv agiert ha-
ben (vgl. NK 270, 25-271, 1), aber das so zustande gekommene Moralgefüge war
angeblich das genaue Gegenstück der vornehmen Moral. Demgegenüber sollen
jetzt nach GM II 20 in Religionsangelegenheiten die Sklaven die Herren einfach
kopiert haben. Wie geht das zusammen?
Damit zusammen hängt ein anderer Aspekt, nämlich die in GM II 19 aufge-
stellte Behauptung, dass der Aufschwung eines Geschlechts auch seine Ahnen-
furcht steigere und schließlich zur Ahnenvergottung führe, der Niedergang
hingegen auch die Ahnenfurcht vermindere (328, 15-21). Wenn dem allerdings
so ist, wie konnte es dann zu dem christlichen Maximalgott kommen, den sich
ja offensichtlich nicht die Starken und Maximalprivilegierten ausgedacht ha-
ben sollen und der in keinem Zusammenhang mit der Ahnenfrage mehr steht?
Warum hat sich der Gläubiger-Gott nicht einfach verflüchtigt, wie es die Ge-
schlechtsniedergangshypothese des letzten Abschnitts nahelegt?
Schließlich bleibt die Frage am Ende von GM II 20 offen, wie es zu der
Gegenbewegung gekommen ist, die Gott und Schuldbewusstsein gleicherma-
ßen abräumen soll. Wie konnte man sich aus der Schuld Gottes lösen und ihn
selbst aufgeben?
329, 8-11 Das Bewusstsein, Schulden gegen die Gottheit zu haben, ist, wie die
Geschichte lehrt, auch nach dem Niedergang der blutverwandtschaftlichen Orga-
nisationsform der „Gemeinschaft" keineswegs zum Abschluss gekommen] Dass
aus der „ursprüngliche[n] geschlechtsgenossenschaftliche[n] Organisation"
„die ganze spätere politische" hervorgeht (Post 1878, 103), liegt als These für
manche der von N. konsultierten Rechtshistoriker auf der Hand, vgl. Giacoia
Junior 2011, 163 (bei Wellhausen 1887, 118 lernte N. dann: „Alle Gemeinschaft
ist Blutgemeinschaft". KGW IX, W II 3, 88 bzw. NL 1887/88, KSA 13, 11[292], 113,
19, dazu Zhavoronkov 2018, 348 f.). Das wird allerdings weder bei Post noch
bei Wellhausen im Kontext der Gottesbegriffsentwicklung diskutiert. Die These
von der fortdauernden Schuldverpflichtung gegenüber der Gottheit macht viel-
mehr Lippert 1882 stark.
329, 15 Geschlechts- und Stammgottheiten] Über „Geschlechts- und Stammgott-
heiten" hat N. bereits in seiner Basler Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen
 
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