378 Zur Genealogie der Moral
Schuld, sondern als Mittel ihrer monströsen Verstetigung präsentiert - ein Be-
fund, für den das Unerlöst-Wirken zahlloser Christen empirisch sprechen mag.
GM II 21 formuliert einen fundamentalen Widerspruch gegen eine in der
Moralphilosophie, aber auch in der moralischen Praxis landläufige Idee - näm-
lich gegen die Idee, dass Moral immer etwas mit Schuld zu tun haben müsse.
Die moralgenealogischen Mutmaßungen dieses Abschnitts fordern die Schuld-
und Gewissensfixierung der moral(philosoph)ischen Annahmen fundamental
heraus und stellen zumindest die Möglichkeit einer gewissens- und schuldfrei-
en Moralität in den von religiös-moralischen Vorurteilen gesäuberten Raum.
Selbst wenn alle moral- und religionshistorischen Annahmen von GM II 21
falsch sein sollten, bleibt die Dringlichkeit der systematischen Anfrage dieses
Textes bestehen: Nämlich ob die Menschen dazu gezwungen sind, Moralität in
Kategorien von Schuld und Schuldigkeit zu denken und zu leben. Man wird
nicht behaupten können, dass die Moralphilosophie nach N. nennenswerte An-
sätze geliefert hat, der Dringlichkeit dieser Anfrage gerecht zu werden. Die Ka-
tegorie der Schuld, des Sich-Verschuldens ist moralphilosophisch ein Hauptge-
sichtspunkt geblieben, so, als ob diese Anfrage nie vernommen worden wäre.
330, 19-32 ich habe absichtlich die eigentliche Moralisirung dieser Begriffe (die
Zurückschiebung derselben in's Gewissen, noch bestimmter, die Verwicklung des
schlechten Gewissens mit dem Gottesbegriffe) bisher bei Seite gelassen und
am Schluss des vorigen Abschnittes sogar geredet, wie als ob es diese Moralisi-
rung gar nicht gäbe, folglich, wie als ob es mit jenen Begriffen nunmehr nothwen-
dig zu Ende gienge, nachdem deren Voraussetzung gefallen ist, der Glaube an
unsern „Gläubiger", an Gott. Der Thatbestand weicht davon in einer furchtbaren
Weise ab. Mit der Moralisirung der Begriffe Schuld und Pflicht, mit ihrer Zurück-
schiebung in's schlechte Gewissen ist ganz eigentlich der Versuch gegeben, die
Richtung der eben beschriebenen Entwicklung umzukehren, mindestens ihre
Bewegung stillzustellen] Der Begriff der „Moralisirung" taucht bei N. erstmals
in JGB 252, KSA 5, 195, 27 (dort in Anführungszeichen) sowie in N VII 3, 77, 46
u. 78, 38 (KGW IX 3) auf, dort mit der Erläuterung: „die Moralisi=/rung selbst
ist eine ,Decadence[']." (Vgl. NL 1886/87, KSA 12, 5[89], 222, 15 f.) Dabei wird
der in GM II 21 thematisierte Prozess gerade nicht so verstanden, wie ihn die
landläufige Moralgeschichtsschreibung darstellt, für die hier Eduard von Hart-
manns 1882 erschienenes Buch Das religiöse Bewusstsein der Menschheit Pate
stehen kann. Dort wird unter der Kapitelüberschrift „Die Moralisirung des reli-
giösen Verhältnisses" (Hartmann o. J., 70-93) sehr ausführlich davon gehan-
delt, wie sich die „Moralisirung des Kultus" vollzogen hat und „wie er [sc. der
Kultus] mit dem Process der Moralisirung des socialen Lebens und der religiö-
sen Objekte Hand in Hand geht" (ebd., 93). Hartmanns Absicht ist zu zeigen,
„wie Schritt vor Schritt die Moralisirung der Götter sich vollziehen musste. Die-
Schuld, sondern als Mittel ihrer monströsen Verstetigung präsentiert - ein Be-
fund, für den das Unerlöst-Wirken zahlloser Christen empirisch sprechen mag.
GM II 21 formuliert einen fundamentalen Widerspruch gegen eine in der
Moralphilosophie, aber auch in der moralischen Praxis landläufige Idee - näm-
lich gegen die Idee, dass Moral immer etwas mit Schuld zu tun haben müsse.
Die moralgenealogischen Mutmaßungen dieses Abschnitts fordern die Schuld-
und Gewissensfixierung der moral(philosoph)ischen Annahmen fundamental
heraus und stellen zumindest die Möglichkeit einer gewissens- und schuldfrei-
en Moralität in den von religiös-moralischen Vorurteilen gesäuberten Raum.
Selbst wenn alle moral- und religionshistorischen Annahmen von GM II 21
falsch sein sollten, bleibt die Dringlichkeit der systematischen Anfrage dieses
Textes bestehen: Nämlich ob die Menschen dazu gezwungen sind, Moralität in
Kategorien von Schuld und Schuldigkeit zu denken und zu leben. Man wird
nicht behaupten können, dass die Moralphilosophie nach N. nennenswerte An-
sätze geliefert hat, der Dringlichkeit dieser Anfrage gerecht zu werden. Die Ka-
tegorie der Schuld, des Sich-Verschuldens ist moralphilosophisch ein Hauptge-
sichtspunkt geblieben, so, als ob diese Anfrage nie vernommen worden wäre.
330, 19-32 ich habe absichtlich die eigentliche Moralisirung dieser Begriffe (die
Zurückschiebung derselben in's Gewissen, noch bestimmter, die Verwicklung des
schlechten Gewissens mit dem Gottesbegriffe) bisher bei Seite gelassen und
am Schluss des vorigen Abschnittes sogar geredet, wie als ob es diese Moralisi-
rung gar nicht gäbe, folglich, wie als ob es mit jenen Begriffen nunmehr nothwen-
dig zu Ende gienge, nachdem deren Voraussetzung gefallen ist, der Glaube an
unsern „Gläubiger", an Gott. Der Thatbestand weicht davon in einer furchtbaren
Weise ab. Mit der Moralisirung der Begriffe Schuld und Pflicht, mit ihrer Zurück-
schiebung in's schlechte Gewissen ist ganz eigentlich der Versuch gegeben, die
Richtung der eben beschriebenen Entwicklung umzukehren, mindestens ihre
Bewegung stillzustellen] Der Begriff der „Moralisirung" taucht bei N. erstmals
in JGB 252, KSA 5, 195, 27 (dort in Anführungszeichen) sowie in N VII 3, 77, 46
u. 78, 38 (KGW IX 3) auf, dort mit der Erläuterung: „die Moralisi=/rung selbst
ist eine ,Decadence[']." (Vgl. NL 1886/87, KSA 12, 5[89], 222, 15 f.) Dabei wird
der in GM II 21 thematisierte Prozess gerade nicht so verstanden, wie ihn die
landläufige Moralgeschichtsschreibung darstellt, für die hier Eduard von Hart-
manns 1882 erschienenes Buch Das religiöse Bewusstsein der Menschheit Pate
stehen kann. Dort wird unter der Kapitelüberschrift „Die Moralisirung des reli-
giösen Verhältnisses" (Hartmann o. J., 70-93) sehr ausführlich davon gehan-
delt, wie sich die „Moralisirung des Kultus" vollzogen hat und „wie er [sc. der
Kultus] mit dem Process der Moralisirung des socialen Lebens und der religiö-
sen Objekte Hand in Hand geht" (ebd., 93). Hartmanns Absicht ist zu zeigen,
„wie Schritt vor Schritt die Moralisirung der Götter sich vollziehen musste. Die-