380 Zur Genealogie der Moral
hiren konnten. Nimmt man nun das Alles als thatsächlich — und der lehrende
Paulus konnte doch nicht anders — so folgt mit logischer Nothwendigkeit, dass
dieser Tod die Folge einer Schuld sein muss, die sich ungetilgt auf alle Men-
schen vererbt habe. Dies ist mit dem von jeder ethischen Beziehung ganz unab-
hängigen Grundbegriffe der alten Sühnschuld völlig vereinbar, auch wenn
man nicht zu der rationalisirenden Erklärung Pauli greift, dass ja doch alle
Menschen in Adam als ihrem Stammvater gesündigt hätten. Hier geräth Paulus
wieder aus dem älteren in den jüngeren Schuldbegriff. Seiner Zeit scheint es
doch schon anstössig, so ganz auf den aller Ethik haaren Schuldbegriff der
Urzeit zurückzugreifen" (Lippert 1882, 66).
331, 14 „Erbsünde", „Unfreiheit des Willens"] Lippert 1882, 320-326 stellt dar,
wie Augustinus den Begriff der Erbsünde aus Paulus heraus entwickelt. „Zu
der Degradirung, welche so das Leben auf der Erde erfährt, stimmt die finstere
Anschauung von der völligen Verderbtheit und Sündhaftigkeit des Menschen
von Haus aus, beziehungsweise seit der Erbsünde." (Lippert 1882, 320) Resü-
miert wird diese Stelle in N VII 2, 167, 32 (KGW IX 3, vgl. NL 1885/86, KSA 12,
1[5], 11, 29). Für Augustinus musste dann auch die Unfreiheit des Willens nach
dem Sündenfall zum Dogma werden: „Sobald diese ,Erbsünde' in den Mittel-
punkt des Systems gestellt wurde, konnte dem Christenthum seine höhere Be-
rechtigung und sein besonderer Werth im Gegensätze zum Pelagianismus nur
in seinem Mysteriumscharakter vindizirt werden. Wer nur mit diesem das
höchste Gut — das ewige Leben — in Beziehung bringen konnte, dem erschien
alles individuelle Handeln der Menschen belanglos, und nur so konnte wohl
Augustinus zu seiner berühmten Leugnung des ,freien Willens' im Menschen
überhaupt gelangen. [...] Bedroht der von Pelagius hervorgehobene ,freie Wille'
des Menschen diesen einzig hohen Werth des Erlösungswerkes, indem er auch
jenen andern Weg eröffnet, so muss dieses liberum arbitrium fallen, und Au-
gustinus vernichtete es rücksichtslos, indem er es dem Menschen zwar vor der
ersten Sünde zutheilt, dann aber infolge dieser abspricht" (Lippert 1882,
322).
331, 16 f. „Verteufelung der Natur"] In M 76 wird von der „Verteufelung des
Eros" (KSA 3, 73, 29) gehandelt - es sind die beiden einzigen Stellen mit dem
Abstraktum „Verteufelung", während M 197 von der „vergöttlichten oder ver-
teufelten Natur" (KSA 3, 171, 22 f.) spricht und W II 2, 104, 10-14 (KGW IX 6) zu
bedenken gibt: „Natürlicher ist unsere Stellung zur Natur: wir lieben sie / nicht
mehr um ihrer ,Unschuld' ,Vernunft' ,Schönheit' willen, wir ha=/ben sie
hübsch ,verteufelt' u. ,verdummt'." (Vgl. NL 1887, KSA 12, 10[53], 483, 15-18.)
In der theologischen Literatur des 19. Jahrhunderts ist öfter davon die Rede,
dass in der Gnosis und im Manichäismus eine „Verteufelung der Natur" stattge-
hiren konnten. Nimmt man nun das Alles als thatsächlich — und der lehrende
Paulus konnte doch nicht anders — so folgt mit logischer Nothwendigkeit, dass
dieser Tod die Folge einer Schuld sein muss, die sich ungetilgt auf alle Men-
schen vererbt habe. Dies ist mit dem von jeder ethischen Beziehung ganz unab-
hängigen Grundbegriffe der alten Sühnschuld völlig vereinbar, auch wenn
man nicht zu der rationalisirenden Erklärung Pauli greift, dass ja doch alle
Menschen in Adam als ihrem Stammvater gesündigt hätten. Hier geräth Paulus
wieder aus dem älteren in den jüngeren Schuldbegriff. Seiner Zeit scheint es
doch schon anstössig, so ganz auf den aller Ethik haaren Schuldbegriff der
Urzeit zurückzugreifen" (Lippert 1882, 66).
331, 14 „Erbsünde", „Unfreiheit des Willens"] Lippert 1882, 320-326 stellt dar,
wie Augustinus den Begriff der Erbsünde aus Paulus heraus entwickelt. „Zu
der Degradirung, welche so das Leben auf der Erde erfährt, stimmt die finstere
Anschauung von der völligen Verderbtheit und Sündhaftigkeit des Menschen
von Haus aus, beziehungsweise seit der Erbsünde." (Lippert 1882, 320) Resü-
miert wird diese Stelle in N VII 2, 167, 32 (KGW IX 3, vgl. NL 1885/86, KSA 12,
1[5], 11, 29). Für Augustinus musste dann auch die Unfreiheit des Willens nach
dem Sündenfall zum Dogma werden: „Sobald diese ,Erbsünde' in den Mittel-
punkt des Systems gestellt wurde, konnte dem Christenthum seine höhere Be-
rechtigung und sein besonderer Werth im Gegensätze zum Pelagianismus nur
in seinem Mysteriumscharakter vindizirt werden. Wer nur mit diesem das
höchste Gut — das ewige Leben — in Beziehung bringen konnte, dem erschien
alles individuelle Handeln der Menschen belanglos, und nur so konnte wohl
Augustinus zu seiner berühmten Leugnung des ,freien Willens' im Menschen
überhaupt gelangen. [...] Bedroht der von Pelagius hervorgehobene ,freie Wille'
des Menschen diesen einzig hohen Werth des Erlösungswerkes, indem er auch
jenen andern Weg eröffnet, so muss dieses liberum arbitrium fallen, und Au-
gustinus vernichtete es rücksichtslos, indem er es dem Menschen zwar vor der
ersten Sünde zutheilt, dann aber infolge dieser abspricht" (Lippert 1882,
322).
331, 16 f. „Verteufelung der Natur"] In M 76 wird von der „Verteufelung des
Eros" (KSA 3, 73, 29) gehandelt - es sind die beiden einzigen Stellen mit dem
Abstraktum „Verteufelung", während M 197 von der „vergöttlichten oder ver-
teufelten Natur" (KSA 3, 171, 22 f.) spricht und W II 2, 104, 10-14 (KGW IX 6) zu
bedenken gibt: „Natürlicher ist unsere Stellung zur Natur: wir lieben sie / nicht
mehr um ihrer ,Unschuld' ,Vernunft' ,Schönheit' willen, wir ha=/ben sie
hübsch ,verteufelt' u. ,verdummt'." (Vgl. NL 1887, KSA 12, 10[53], 483, 15-18.)
In der theologischen Literatur des 19. Jahrhunderts ist öfter davon die Rede,
dass in der Gnosis und im Manichäismus eine „Verteufelung der Natur" stattge-