386 Zur Genealogie der Moral
befinden, ihr heiteres Wesen verlieren und einen mürrischen, düste-
ren Charakter annehmen" (Lippert 1882, 31).
333, 4 f. dass man es sich gewaltsam verbieten muss, zu lange in diese Abgründe
zu blicken] Vgl. JGB 146, KSA 5, 98, 19-21: „Und wenn du lange in einen Ab-
grund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."
333, 10 f. der Schrei Liebe, der Schrei des sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlö-
sung in der Liebe geklungen hat] Dass die Liebe nicht nur in 1. Korinther 13
ein zentrales Motiv des christlichen Selbstverständnisses ist, nimmt N. auch in
AC 29 auf, wo er über den „psychologischen Typus des Erlösers" spricht, also
über Jesus, dessen einzige Lebensoption die Liebe als Aufgeben aller Distanz
ist, vgl. NK KSA 6, 200, 4-7. Zu zwei wesentlichen Quellen von N.s Liebesrefle-
xionen in den 1880er Jahren, nämlich Stendhal 1854c und Mantegazza 1877,
siehe Piazzesi 2015.
333, 13 f. Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!...] Die Welt als Irrenhaus
ist eine bei N. gerne bemühte Metapher - vgl. z. B. AC 38 und AC 51 (Loeb
2006, 165 f. stellt Parallelen zu Za II Von der Erlösung, KSA 4, 177-182 heraus.
Zum Motiv auch Bittner 1994, 127 f.). Sie hat ehrwürdige literarische Ahnen,
siehe NK KSA 6, 210, 2.
23.
Als Kontrast zum Christentum, dem Gott ausschließlich dazu gedient haben
soll, sich als Mensch selbst schlecht und ein schlechtes Gewissen zu machen,
bemüht GM II 23 den Umgang der Griechen mit ihren Göttern. Diese seien „Wie-
derspiegelungen vornehmer und selbstherrlicher Menschen" gewesen, „in de-
nen das Thier im Menschen sich vergöttlicht fühlte" (333, 26-28). Diese Götter
hätten gerade den Zweck erfüllt, schlechtes Gewissen zu vermeiden, indem die
Griechen nämlich den Göttern die Schuld zuschöben. GM II 23 führt dabei eine
Passage aus Homer: Odyssee I 32-34 an, die Zeus als Kritiker dieser menschli-
chen Tendenz auftreten lässt, den Göttern die Verantwortung für das Böse zu-
zuschieben, während die Menschen selbst daran schuld seien. „Doch hört und
sieht man hier zugleich, auch dieser olympische Zuschauer und Richter ist fer-
ne davon, ihnen [sc. den Menschen] deshalb gram zu sein" (334, 14-16).
GM II 23 nimmt also die bei Homer dem Göttervater in den Mund gelegte Kritik
an den menschlichen Projektionen als Beleg dafür, wie es um die griechische
Religion eigentlich bestellt gewesen sei - dass man eben gerade die Götter für
alles Übel verantwortlich gemacht habe. Das wird im Fortgang des Abschnitts
noch unterstrichen durch die Erklärungsnöte vornehmer Griechen angesichts
befinden, ihr heiteres Wesen verlieren und einen mürrischen, düste-
ren Charakter annehmen" (Lippert 1882, 31).
333, 4 f. dass man es sich gewaltsam verbieten muss, zu lange in diese Abgründe
zu blicken] Vgl. JGB 146, KSA 5, 98, 19-21: „Und wenn du lange in einen Ab-
grund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."
333, 10 f. der Schrei Liebe, der Schrei des sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlö-
sung in der Liebe geklungen hat] Dass die Liebe nicht nur in 1. Korinther 13
ein zentrales Motiv des christlichen Selbstverständnisses ist, nimmt N. auch in
AC 29 auf, wo er über den „psychologischen Typus des Erlösers" spricht, also
über Jesus, dessen einzige Lebensoption die Liebe als Aufgeben aller Distanz
ist, vgl. NK KSA 6, 200, 4-7. Zu zwei wesentlichen Quellen von N.s Liebesrefle-
xionen in den 1880er Jahren, nämlich Stendhal 1854c und Mantegazza 1877,
siehe Piazzesi 2015.
333, 13 f. Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!...] Die Welt als Irrenhaus
ist eine bei N. gerne bemühte Metapher - vgl. z. B. AC 38 und AC 51 (Loeb
2006, 165 f. stellt Parallelen zu Za II Von der Erlösung, KSA 4, 177-182 heraus.
Zum Motiv auch Bittner 1994, 127 f.). Sie hat ehrwürdige literarische Ahnen,
siehe NK KSA 6, 210, 2.
23.
Als Kontrast zum Christentum, dem Gott ausschließlich dazu gedient haben
soll, sich als Mensch selbst schlecht und ein schlechtes Gewissen zu machen,
bemüht GM II 23 den Umgang der Griechen mit ihren Göttern. Diese seien „Wie-
derspiegelungen vornehmer und selbstherrlicher Menschen" gewesen, „in de-
nen das Thier im Menschen sich vergöttlicht fühlte" (333, 26-28). Diese Götter
hätten gerade den Zweck erfüllt, schlechtes Gewissen zu vermeiden, indem die
Griechen nämlich den Göttern die Schuld zuschöben. GM II 23 führt dabei eine
Passage aus Homer: Odyssee I 32-34 an, die Zeus als Kritiker dieser menschli-
chen Tendenz auftreten lässt, den Göttern die Verantwortung für das Böse zu-
zuschieben, während die Menschen selbst daran schuld seien. „Doch hört und
sieht man hier zugleich, auch dieser olympische Zuschauer und Richter ist fer-
ne davon, ihnen [sc. den Menschen] deshalb gram zu sein" (334, 14-16).
GM II 23 nimmt also die bei Homer dem Göttervater in den Mund gelegte Kritik
an den menschlichen Projektionen als Beleg dafür, wie es um die griechische
Religion eigentlich bestellt gewesen sei - dass man eben gerade die Götter für
alles Übel verantwortlich gemacht habe. Das wird im Fortgang des Abschnitts
noch unterstrichen durch die Erklärungsnöte vornehmer Griechen angesichts