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Stellenkommentar GM III 1, KSA 5, S. 339 399

reichlich opaken Ausblick auf die gesamte Dritte Abhandlung, indem er abbre-
viaturhaft und thetisch die Bedeutung asketischer Ideale für verschiedene Per-
sonengruppen herausstellt. Im Unterschied zu der Suggestion in GM Vorrede 8,
KSA 5, 255, 25-256, 2 dürfte freilich die in der Dritten Abhandlung gegebene
Auslegung schon festgestanden haben, bevor das Auszulegende, also GM III 1
nachgereicht wurde. Dieser „Aphorismus" ist also die wohl nachträglich ent-
standene, bewusst verrätselte Verdichtung und Inhaltszusammenfassung eines
längeren Gedankengangs. Ihr Zweck ist es offensichtlich, den Text der Dritten
Abhandlung interessant zu machen. Der „Aphorismus" dient dazu, Leser ein-
zufangen - sicher auch durch die Provokation, dass hier der Ausleger und der
Auszulegende in Personalunion auftreten. Denn gemeinhin wird Auslegung
autoritativen Texten von anderer Hand, Klassikern und heiligen Schriften zu-
teil. Wer sich selbst auslegt, nobilitiert und kanonisiert sich - und muss mit
Gegenrede rechnen.
Der Anfang von GM III 1 nimmt den Titel der Dritten Abhandlung als Frage
auf und gibt nach einem Gedankenstrich gleich unterschiedliche Antworten je
nach Gruppe: für „Künstler[.]" (339, 9) bedeuteten asketische Ideale nichts oder
vieles, für „Philosophen und Gelehrte[.]" (339, 10) ein Mittel zur Arbeitsopti-
mierung, für „Frauen" (339, 12) ein Verführungsmittel, für „physiologisch Ver-
unglücktet.]" einen „Versuch, sich ,zu gut' für diese Welt vorzukommen" (339,
15-17), für „Priester[.]" (339, 19) ein Instrument des Machtgewinns, für „Heili-
get.]" die „Ruhe im Nichts" (339, 21 f.). Dass „das asketische Ideal" (339, 23 f. -
jetzt im Singular!) derart viel bedeutet habe, gründe darin, dass der Wille ein
Ziel brauche - er eher das Nichts wolle, als nicht zu wollen. Ob man ihn verste-
he, fragt das „Ich" - um in direkter Gegenrede von einem imaginierten Leser
die Antwort zu bekommen: „,Schlechterdings nicht! mein Herr!'"
(339, 28 f.) Worauf als Antwort außerhalb von Anführungszeichen der Schluss-
satz folgt, der die Auslegung des Aphorismus in Aussicht stellt: „Fangen wir
also von vorne an." (339, 29 f.)
Zur Aposiopese als rhetorischer Figur in GM und namentlich in GM III 1
siehe Allison 1994.
339, 9 Was bedeuten asketische Ideale?] Vgl. NK 339, 2. Diese Frage ist zugleich
der Titel der gesamten Dritten Abhandlung von GM - der einzige der drei Ab-
handlungstitel in Frageform. Abschnitt GM III 1 skizziert eine komprimierte
Antwort auf diese Frage. Die folgenden 27 Abschnitte stellen sich dann als
weitläufige Explikation und Beantwortung der Frage nach der Bedeutung aske-
tischer Ideale dar (vgl. auch Westerdale 2013, 17 f.).
Gefragt wird nicht nach der Wortbedeutung der asketischen Ideale, son-
dern danach, was dahinter steckt, welche Relevanz sie im Leben haben - nach
ihrer Pragmatik sozusagen. Die Forschungsmethode ist also nicht die der Ety-
 
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