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Stellenkommentar GM III 4, KSA 5, S. 342-343 413

Ideale für Künstler geht, bemüht sich GM III 4 um den Nachweis, dass hier
„ein typischer Fall" (343, 9) vorliege. Das Typische besteht dabei nicht in
einer vermeintlich unter Künstlern allgemein verbreiteten christlich-weltver-
neinenden Tendenz, sondern vielmehr darin, dass sie die Neigung haben, den
Graben zwischen dem „,Realen"' sowie der „,Unrealität' und Falschheit" (344,
4 u. 6) der künstlerischen Fiktion zu überspringen, um in die Wirklichkeit ein-
zugreifen. Dieses Trachten werde freilich kaum von Erfolg gekrönt, sondern,
wie bei Wagner, von der „typische[n] Velleität" (344, 11), von Willens-
schwäche bestimmt. Diese habe im Parsifal Wagners Gesamtwerk „Schopen-
hauerisch", „nihilistisch" (344, 30 f.) auslaufen lassen.
Vorausgeschickt wird dieser Kritik in GM III 4 das Argument, man müsse
den Künstler vollständig von seinem Werk trennen, für das die Person nur die
physisch-psychische Vorbedingung darstelle. Das könne für den Erforscher der
„Herkunft eines Werks", die „Physiologen und Vivisektoren des Geistes"
aufschlussreich sein, aber nicht für „die ästhetischen Menschen, die Artisten"
(343, 17-19). Das sprechende „Ich" tritt allerdings nicht in letzterer Rolle auf,
sondern in ersterer, indem es gleich darüber räsoniert, dass dem Parsifal-Kom-
ponisten alle möglichen Abnormitäten, „eine Art intellektueller Perversität"
(343, 23) ebenso wenig erspart geblieben seien wie einer Schwangeren „die
Widerlichkeiten und Wunderlichkeiten der Schwangerschaft" (343, 25 f.). Diese
müsse man beim Produkt - Werk, Kind - rückblickend vergessen können, um
sich daran zu erfreuen. Vor allem aber müsse man sich davor hüten, den
Künstler mit dem zu verwechseln, was er in seinem Werk darstelle: Was man
sei, könne man nicht darstellen - „ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe
keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill und wenn Goethe ein Faust
gewesen wäre" (344, 1-3). Deshalb eben seien die Künstler „in alle Ewigkeit"
vom „Wirklichen abgetrennt" (344, 4 f.). Ihre Überwindungsversuche seien al-
lesamt vergeblich.
GM III 4 erprobt einen kalten, nüchternen Zugriff auf die Kunst, nach Maß-
gabe der psycho-physiologischen Vivisektion: Die Nicht-Identität von Künstler
und Kunstwerk und die Zuordnung der Kunst zur Sphäre des Unwirklichen
münden in eine weitgehende Depotenzierung der Kunst: Sie erscheint als letzt-
lich nicht lebensrelevant, als schöner Schein, der nie wirklichkeitsmächtig
wird - und bei entsprechenden Versuchen ins Lächerliche abgleitet. Vorausset-
zung dieser Argumentation ist freilich, dass es eine scharfe und prinzipielle
Unterscheidung von Realem und Irrealem gibt, was vor dem Hintergrund von
N.s sonstiger Bereitschaft, die lebensweltliche Relevanz beispielsweise von
geistigen Entitäten (oder Konstrukten) oder von „Idealen" herauszustellen,
seltsam schematisch anmutet. Die Sphäre der Kunst als die Sphäre des Unwirk-
lichen beiseite zu stellen, steht in scharfem Kontrast zu N.s frühen Bemühun-
 
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