Stellenkommentar GM III 6, KSA 5, S. 346 423
resselosigkeit reden könne. Wenn Stendhal dagegen die Schönheit als Glücks-
versprechen deutet, ist damit stärkstes Interesse markiert - und ohnehin ver-
stiegen sich die Kant-Verteidiger etwa im Umgang mit Darstellungen nackter
Menschen zu allerhand Skurrilitäten. Schopenhauer hingegen, der den Küns-
ten aus Erfahrung selbst nahe war, aber sich doch nicht wirklich aus Kants
Bannkreis habe lösen können, meine nun, dass die ästhetische Kontemplation
der sexuellen Begierde entgegenwirke. Ja man könne Schopenhauers Idee ei-
ner Erlösung vom Willen auf der Folie dieser Perhorreszierung des Geschlecht-
lichen zu deuten geneigt sein. Selbst wenn Schopenhauer tatsächlich an sich
selbst diese Gegensatzerfahrung von ästhetischer Kontemplation und Ge-
schlechtstrieb gemacht haben sollte - dass das Schöne die Begierde ruhigstel-
le -, bedeute das jedoch nicht, dass dies die Regelerfahrung des Ästhetischen
sei. Mit Stendhal könne man eher dazu neigen, im Schönen die „Erregung
des Willens" (349, 3) erfahrbar zu finden. Und sei schließlich nicht auch
Schopenhauer selbst Kants Vorgabe der Interesselosigkeit untreu geworden, da
er doch selbst seine ästhetische Erfahrung einem sehr durchsichtigen Interesse
unterordne, nämlich demjenigen, vom Leiden an der Sexualität freizuwerden?
Eine eingehende Analyse von GM III 6 im Verhältnis zu Kant stellt Heftrich
1991 vor; zu Kant und Schopenhauers Ästhetik im Spiegel N.s siehe Neymeyr
1995, 239-248 u. im Blick auf GM III 6 Denham 2014, 186-188.
346, 19-25 Schopenhauer hat sich die Kantische Fassung des ästhetischen Prob-
lems zu Nutze gemacht, — obwohl er es ganz gewiss nicht mit Kantischen Augen
angeschaut hat. Kant gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen, als er unter den
Prädikaten des Schönen diejenigen bevorzugte und in den Vordergrund stellte,
welche die Ehre der Erkenntniss ausmachen: Unpersönlichkeit und Allgemeingül-
tigkeit.] In AC 11 belegt N. nicht die Ästhetik Kants, wie sie im ersten Teil der
Kritik der Urteilskraft dargelegt ist, mit den Epitheta der „Unpersönlichkeit"
und „Allgemeingültigkeit", sondern „das Gute" (KSA 6, 177, 13 f.), um dann
Kants Ethik ebenfalls ein verheerendes Zeugnis auszustellen. Die Kritik der Ur-
teilskraft postuliert: „Das Schöne ist das, was ohne Begriffe als Object eines
allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird", so dass „es sich nicht auf irgend
eine Neigung des Subjects gründet" (AA V, 211). „Allgemeingültigkeit" nimmt
Kant dabei für das ästhetische Urteil wiederholt und ausdrücklich in Anspruch
(z. B. AA V, 215; 281 u. 340 f., vgl. auch Fischer 1882, 4, 429 f.). Den Begriff der
„Unpersönlichkeit" benutzt Kant hingegen nicht. Vgl. auch NK 382, 26.
In seiner Evaluation von Kants Sittengesetz hält Schopenhauer fest, „der
Inhalt des Gesetzes [sei] nichts Anderes, als seine Allgemeingültigkeit
selbst" (Schopenhauer 1873-1874, 4/2, 141), um anschließend Kants ethischen
Ansatz zu verwerfen. Nicht weniger schroff geht Schopenhauer mit Kants Äs-
thetik ins Gericht, der er gleichfalls Realitätsferne, ja Realitätsverweigerung
resselosigkeit reden könne. Wenn Stendhal dagegen die Schönheit als Glücks-
versprechen deutet, ist damit stärkstes Interesse markiert - und ohnehin ver-
stiegen sich die Kant-Verteidiger etwa im Umgang mit Darstellungen nackter
Menschen zu allerhand Skurrilitäten. Schopenhauer hingegen, der den Küns-
ten aus Erfahrung selbst nahe war, aber sich doch nicht wirklich aus Kants
Bannkreis habe lösen können, meine nun, dass die ästhetische Kontemplation
der sexuellen Begierde entgegenwirke. Ja man könne Schopenhauers Idee ei-
ner Erlösung vom Willen auf der Folie dieser Perhorreszierung des Geschlecht-
lichen zu deuten geneigt sein. Selbst wenn Schopenhauer tatsächlich an sich
selbst diese Gegensatzerfahrung von ästhetischer Kontemplation und Ge-
schlechtstrieb gemacht haben sollte - dass das Schöne die Begierde ruhigstel-
le -, bedeute das jedoch nicht, dass dies die Regelerfahrung des Ästhetischen
sei. Mit Stendhal könne man eher dazu neigen, im Schönen die „Erregung
des Willens" (349, 3) erfahrbar zu finden. Und sei schließlich nicht auch
Schopenhauer selbst Kants Vorgabe der Interesselosigkeit untreu geworden, da
er doch selbst seine ästhetische Erfahrung einem sehr durchsichtigen Interesse
unterordne, nämlich demjenigen, vom Leiden an der Sexualität freizuwerden?
Eine eingehende Analyse von GM III 6 im Verhältnis zu Kant stellt Heftrich
1991 vor; zu Kant und Schopenhauers Ästhetik im Spiegel N.s siehe Neymeyr
1995, 239-248 u. im Blick auf GM III 6 Denham 2014, 186-188.
346, 19-25 Schopenhauer hat sich die Kantische Fassung des ästhetischen Prob-
lems zu Nutze gemacht, — obwohl er es ganz gewiss nicht mit Kantischen Augen
angeschaut hat. Kant gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen, als er unter den
Prädikaten des Schönen diejenigen bevorzugte und in den Vordergrund stellte,
welche die Ehre der Erkenntniss ausmachen: Unpersönlichkeit und Allgemeingül-
tigkeit.] In AC 11 belegt N. nicht die Ästhetik Kants, wie sie im ersten Teil der
Kritik der Urteilskraft dargelegt ist, mit den Epitheta der „Unpersönlichkeit"
und „Allgemeingültigkeit", sondern „das Gute" (KSA 6, 177, 13 f.), um dann
Kants Ethik ebenfalls ein verheerendes Zeugnis auszustellen. Die Kritik der Ur-
teilskraft postuliert: „Das Schöne ist das, was ohne Begriffe als Object eines
allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird", so dass „es sich nicht auf irgend
eine Neigung des Subjects gründet" (AA V, 211). „Allgemeingültigkeit" nimmt
Kant dabei für das ästhetische Urteil wiederholt und ausdrücklich in Anspruch
(z. B. AA V, 215; 281 u. 340 f., vgl. auch Fischer 1882, 4, 429 f.). Den Begriff der
„Unpersönlichkeit" benutzt Kant hingegen nicht. Vgl. auch NK 382, 26.
In seiner Evaluation von Kants Sittengesetz hält Schopenhauer fest, „der
Inhalt des Gesetzes [sei] nichts Anderes, als seine Allgemeingültigkeit
selbst" (Schopenhauer 1873-1874, 4/2, 141), um anschließend Kants ethischen
Ansatz zu verwerfen. Nicht weniger schroff geht Schopenhauer mit Kants Äs-
thetik ins Gericht, der er gleichfalls Realitätsferne, ja Realitätsverweigerung