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Stellenkommentar GM III 9, KSA 5, S. 355-356 451

position zu allem Geltenden befunden hätten, als sie erstmals auftraten: Der
Zweifel, das Verneinen, das Abwarten, das Analysieren, der „Wille[.] zu Neutra-
lität und Objektivität" (357, 7), schließlich die „Vernunft überhaupt" (357, 11)
mussten als verboten erscheinen. Überhaupt hätten - und damit schwenkt
GM III 9 zu einer allgemeinen Betrachtung um - alle heute als gut geltenden
Dinge, die aus Stärke und nicht aus Schwäche resultierten, einst als verwerf-
lich gegolten (und das scheint nicht polemisch gegen die Sprechergegenwart
gemeint). Aus altgriechischer Sicht würden sich heutiges Wertschätzen und
Tun „wie lauter Hybris und Gottlosigkeit" (357, 20) ausnehmen: das Verhältnis
zur Natur und die technische Naturausbeutung, das Verhältnis zum (abge-
schafften) Gott als Moral-Lenkungsinstanz, das Verhältnis der Menschen -
GM III 9 spricht stets von „wir" und „uns" - zu sich selbst, sich genüsslich
vivisezierend. Überhaupt sei aus „jeder Erbsünde [...] eine Erbtugend" (358, 10)
geworden - die Ehe beispielsweise als Raub an der Gemeinschaft, indem man
ihr die Gattin entzieht, oder die Milde als etwas Verachtungswürdiges oder das
Recht als Gewalt, der man sich nicht fügen wollte. Den Abschnitt beschließt
ein längeres, modifiziertes Zitat aus M 18, wonach nichts in der Geschichte der
Menschheit so teuer erkauft sei wie „das Wenige von menschlicher Vernunft
und vom Gefühle der Freiheit, was jetzt unsern Stolz ausmacht" (358, 34-359,
1). Die längste Zeit über habe als Tugend festgestanden, was jetzt nur noch
Abscheu hervorruft - und umgekehrt.
Gerade im Rückgriff auf M 18 als Selbstbeglaubigung scheint GM III 9 eine
positive Sicht auf die Errungenschaften der jüngeren Geschichte, einer umfas-
send verstandenen Aufklärung zu indizieren. Zunächst könnte der Eindruck
entstehen, es gehe nicht so sehr um die ,humanitären Errungenschaften', son-
dern ausschließlich um das, was aus „Macht und Machtbewusstsein" (357, 19 f.)
stammt, so dass der erste Teil des Abschnitts noch als Plädoyer für eine gewalt-
same Moderne verstanden werden könnte. Der zweite Teil hingegen nennt aus-
schließlich Ergebnisse des weltgeschichtlichen Geschehensprozesses, die der
rohen Machtausübung zuwiderlaufen und individuelle, ,humanitäre' Gesichts-
punkte zur Geltung bringen.
357, 23-26 ist eine der seltenen Stellen in N.s Werken, die einen Ansatz zu
einer Philosophie der Technik bieten (vgl. Gerhardt 2021). Die moderne techni-
sche Welt, die doch N.s Lebensalltag bereits stark bestimmt hat - von der Ei-
senbahn als hauptsächlichem Transportmittel bis hin zur Schreibkugel, einer
Vorform der Schreibmaschine, mit der N. kurzzeitig zu arbeiten versuchte (vgl.
Nietzsche 2002) -, bleibt ansonsten in seinem CEuvre weitgehend ausgeblen-
det. Isoliert betrachtet klingt die Äußerung über die „Hybris" in unserem Na-
turverhältnis überaus kritisch, fast wie eine Vorwegnahme von Heideggers An-
titechnizismus. Allerdings ist „Hybris" hier keineswegs ein absoluter Begriff,
 
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