Stellenkommentar GM III 10, KSA 5, S. 358 459
Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausam-
keit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleug-
nung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die
Wissbegier als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Be-
mitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Gött-
lichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Gel-
tung war!".
10.
GM III 10 führt den unterbrochenen Gedanken vom Beginn des Abschnitts
GM III 9 zu Ende, dass das asketische Ideal einst eine Schutzfunktion für die
Philosophen gehabt habe. Den Faden wieder aufzunehmen erlaubt der Rück-
griff auf eine weitere Stelle aus M, die die gewaltige Bedrängung thematisiert,
unter der „das älteste Geschlecht contemplativer Menschen" (359, 16 f.) gelebt
habe. Deren vermeintliche Inaktivität und Kriegsferne hätten „Misstrauen"
(359, 23) gesät, so dass die einzige Chance für diese kontemplativ Gesonnenen
darin bestanden habe, Furcht zu wecken - wobei sie wesentlich auch „vor sich
selbst Furcht und Ehrfurcht" (359, 30 f.) gewinnen sollten und wollten, war
doch ihre bisherige Lebensform keine, deren Wert irgendwie schon festgestan-
den hätte. Die asketischen Ideale erwiesen sich dabei als ideale Einkleidung,
mit der die Kontemplativen, die bald als Philosophen auftraten, Furcht und
Ehrfurcht zu verbreiten verstanden - anfangs als eine listige „Hülle" (360, 32),
später dann versteinert als scheinbarer Inbegriff dessen, was das Philosoph-
Sein überhaupt ausmacht. Ohne diese Hülle hätten sie die längste Zeit gar
nicht unbehelligt leben können, so dass sie sich den Habit(us) des „asketi-
sche [n] Priester[s]" (360, 34-361, 1) aneigneten. GM III 10 endet mit der
Frage, ob sich die Philosophen mittlerweile erfolgreich dieser Einkleidung ent-
ledigt haben, die zu ihrer zweiten Natur zu werden drohte. „Ist heute schon
genug Stolz, Wagniss, Tapferkeit, Selbstgewissheit, Wille des Geistes, Wille zur
Verantwortlichkeit, Freiheit des Willens vorhanden, dass wirklich nun-
mehr auf Erden ,der Philosoph' — möglich ist?..." (361, 7-11).
Hans Blumenberg merkt in seinem nachgelassenen Manuskript Die nackte
Wahrheit zu GM III 10 an: „Damit rückt die ganze Geschichte der Philosophie
in den überraschendsten Verdacht, Vorspiegelung und Vorspielung dessen zu
sein, was ihre Intention am Ende herauszutreten, unerkannt und unerkennbar
bleiben ließ: insofern nämlich die längste Zeit Philosophie auf Erden gar nicht
möglich gewesen wäre ohne eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein as-
ketisches Selbst-Mißverständnis. I Im Hintergrund ist als implizite Metapher der
Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausam-
keit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleug-
nung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die
Wissbegier als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Be-
mitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Gött-
lichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Gel-
tung war!".
10.
GM III 10 führt den unterbrochenen Gedanken vom Beginn des Abschnitts
GM III 9 zu Ende, dass das asketische Ideal einst eine Schutzfunktion für die
Philosophen gehabt habe. Den Faden wieder aufzunehmen erlaubt der Rück-
griff auf eine weitere Stelle aus M, die die gewaltige Bedrängung thematisiert,
unter der „das älteste Geschlecht contemplativer Menschen" (359, 16 f.) gelebt
habe. Deren vermeintliche Inaktivität und Kriegsferne hätten „Misstrauen"
(359, 23) gesät, so dass die einzige Chance für diese kontemplativ Gesonnenen
darin bestanden habe, Furcht zu wecken - wobei sie wesentlich auch „vor sich
selbst Furcht und Ehrfurcht" (359, 30 f.) gewinnen sollten und wollten, war
doch ihre bisherige Lebensform keine, deren Wert irgendwie schon festgestan-
den hätte. Die asketischen Ideale erwiesen sich dabei als ideale Einkleidung,
mit der die Kontemplativen, die bald als Philosophen auftraten, Furcht und
Ehrfurcht zu verbreiten verstanden - anfangs als eine listige „Hülle" (360, 32),
später dann versteinert als scheinbarer Inbegriff dessen, was das Philosoph-
Sein überhaupt ausmacht. Ohne diese Hülle hätten sie die längste Zeit gar
nicht unbehelligt leben können, so dass sie sich den Habit(us) des „asketi-
sche [n] Priester[s]" (360, 34-361, 1) aneigneten. GM III 10 endet mit der
Frage, ob sich die Philosophen mittlerweile erfolgreich dieser Einkleidung ent-
ledigt haben, die zu ihrer zweiten Natur zu werden drohte. „Ist heute schon
genug Stolz, Wagniss, Tapferkeit, Selbstgewissheit, Wille des Geistes, Wille zur
Verantwortlichkeit, Freiheit des Willens vorhanden, dass wirklich nun-
mehr auf Erden ,der Philosoph' — möglich ist?..." (361, 7-11).
Hans Blumenberg merkt in seinem nachgelassenen Manuskript Die nackte
Wahrheit zu GM III 10 an: „Damit rückt die ganze Geschichte der Philosophie
in den überraschendsten Verdacht, Vorspiegelung und Vorspielung dessen zu
sein, was ihre Intention am Ende herauszutreten, unerkannt und unerkennbar
bleiben ließ: insofern nämlich die längste Zeit Philosophie auf Erden gar nicht
möglich gewesen wäre ohne eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein as-
ketisches Selbst-Mißverständnis. I Im Hintergrund ist als implizite Metapher der