460 Zur Genealogie der Moral
doketistische Christus erkennbar, der vergessen haben mußte, daß er Gottes
Sohn war, um glaubwürdig das menschliche Geschick erleiden zu können.
Nicht anders die Philosophie; sie wiederholt nicht die Geschichte des Priester-
betrugs vor aller Aufklärung, sondern arbeitet emsig daran zu glauben, was
sie darstellen soll, um sich eines Tages gegen das wenden zu können, was sie
eben nur dargestellt hatte." (Blumenberg 2019, im Druck. Manuskript Deut-
sches Literaturarchiv Marbach, S. 17).
359, 15-18 In demselben Buche S. 39 ist auseinandergesetzt, in welcher Schät-
zung, unter welchem Druck von Schätzung das älteste Geschlecht contemplati-
ver Menschen zu leben hatte, — genau so weit verachtet als es nicht gefürchtet
wurde!] Das entspricht Nietzsche 1881/1887b, 39 f. = M 42, KSA 3, 49, 10-50,
18.
359, 21-31 Das Inaktive, Brütende, Unkriegerische in den Instinkten contempla-
tiver Menschen legte lange ein tiefes Misstrauen um sie herum: dagegen gab es
kein anderes Mittel als entschieden Furcht vor sich erwecken. Und darauf ha-
ben sich zum Beispiel die alten Brahmanen verstanden! Die ältesten Philosophen
wussten ihrem Dasein und Erscheinen einen Sinn, einen Halt und Hintergrund zu
geben, auf den hin man sie fürchten lernte: genauer erwogen, aus einem noch
fundamentaleren Bedürfnisse heraus, nämlich um vor sich selbst Furcht und Ehr-
furcht zu gewinnen.] Die indischen Brahmanen erscheinen hier - wohl auch
unter Eindruck von Deussen 1883 - als frühere Verkörperungen jenes kontemp-
lativen Typus, der später Philosoph genannt wird, also nicht eigentlich als
Priester. Dass die Brahmanen Furcht vor sich zu erwecken verstanden hätten,
konnte N. beispielsweise Oldenbergs Buddha entnehmen, wo es heißt: „Der
junge Inder arischer Geburt gilt als ausgestossen, wenn er nicht zu rechter Zeit
einem brahmanischen Lehrer zugeführt wird, um von ihm die heilige Schnur,
das Abzeichen des geistlich Wiedergebornen, zu empfangen und in die Weis-
heit des Veda eingeführt zu werden. [...] Und durch die langen Jahre, die der
Schüler im Hause des Lehrers zubringt, ist er in dessen Furcht und Gehorsam
gebannt" (Oldenberg 1881, 15). Dass Philosophen Furcht erweckt haben sollen,
um überhaupt respektiert zu werden, ist eine historische Hypothese, die bei N.
mehrfach aktualisiert wird. Auch nur zu dem Zweck, dem Philosophen Spiel-
raum für seine eigene Lebensform zu verschaffen? Und nach 359, 30 f. auch
um eine „Furcht und Ehrfurcht" (vgl. NK 273, 26-33 u. NK 277, 9-13) vor sich
selbst zu erzeugen, die das Innerste und Eigentlichste zu schützen vermöchte -
auch vor der vivisektorischen Selbstzersetzungslust (vgl. GM III 9, KSA 5, 358,
4-9)?
Die Ehrfurcht, die die Philosophen vor sich selbst hegen und die ihnen als
Mittel zur Selbstbestätigung dient, erscheint als Gegenentwurf zu dem in
doketistische Christus erkennbar, der vergessen haben mußte, daß er Gottes
Sohn war, um glaubwürdig das menschliche Geschick erleiden zu können.
Nicht anders die Philosophie; sie wiederholt nicht die Geschichte des Priester-
betrugs vor aller Aufklärung, sondern arbeitet emsig daran zu glauben, was
sie darstellen soll, um sich eines Tages gegen das wenden zu können, was sie
eben nur dargestellt hatte." (Blumenberg 2019, im Druck. Manuskript Deut-
sches Literaturarchiv Marbach, S. 17).
359, 15-18 In demselben Buche S. 39 ist auseinandergesetzt, in welcher Schät-
zung, unter welchem Druck von Schätzung das älteste Geschlecht contemplati-
ver Menschen zu leben hatte, — genau so weit verachtet als es nicht gefürchtet
wurde!] Das entspricht Nietzsche 1881/1887b, 39 f. = M 42, KSA 3, 49, 10-50,
18.
359, 21-31 Das Inaktive, Brütende, Unkriegerische in den Instinkten contempla-
tiver Menschen legte lange ein tiefes Misstrauen um sie herum: dagegen gab es
kein anderes Mittel als entschieden Furcht vor sich erwecken. Und darauf ha-
ben sich zum Beispiel die alten Brahmanen verstanden! Die ältesten Philosophen
wussten ihrem Dasein und Erscheinen einen Sinn, einen Halt und Hintergrund zu
geben, auf den hin man sie fürchten lernte: genauer erwogen, aus einem noch
fundamentaleren Bedürfnisse heraus, nämlich um vor sich selbst Furcht und Ehr-
furcht zu gewinnen.] Die indischen Brahmanen erscheinen hier - wohl auch
unter Eindruck von Deussen 1883 - als frühere Verkörperungen jenes kontemp-
lativen Typus, der später Philosoph genannt wird, also nicht eigentlich als
Priester. Dass die Brahmanen Furcht vor sich zu erwecken verstanden hätten,
konnte N. beispielsweise Oldenbergs Buddha entnehmen, wo es heißt: „Der
junge Inder arischer Geburt gilt als ausgestossen, wenn er nicht zu rechter Zeit
einem brahmanischen Lehrer zugeführt wird, um von ihm die heilige Schnur,
das Abzeichen des geistlich Wiedergebornen, zu empfangen und in die Weis-
heit des Veda eingeführt zu werden. [...] Und durch die langen Jahre, die der
Schüler im Hause des Lehrers zubringt, ist er in dessen Furcht und Gehorsam
gebannt" (Oldenberg 1881, 15). Dass Philosophen Furcht erweckt haben sollen,
um überhaupt respektiert zu werden, ist eine historische Hypothese, die bei N.
mehrfach aktualisiert wird. Auch nur zu dem Zweck, dem Philosophen Spiel-
raum für seine eigene Lebensform zu verschaffen? Und nach 359, 30 f. auch
um eine „Furcht und Ehrfurcht" (vgl. NK 273, 26-33 u. NK 277, 9-13) vor sich
selbst zu erzeugen, die das Innerste und Eigentlichste zu schützen vermöchte -
auch vor der vivisektorischen Selbstzersetzungslust (vgl. GM III 9, KSA 5, 358,
4-9)?
Die Ehrfurcht, die die Philosophen vor sich selbst hegen und die ihnen als
Mittel zur Selbstbestätigung dient, erscheint als Gegenentwurf zu dem in