Stellenkommentar GM III 11, KSA 5, S. 361 463
die ihr entgegengesetzte Position gegeneinander ausspielen könnte. Damit
stünde es doch dem „,Ernst'" (361, 16) entgegen, der mit dem asketischen Ideal
liiert ist. Der ganze Abschnitt lässt sich gleichsam als Szenenanweisung für
ein Spiel der Wertungsgegensätze interpretieren — ein Spiel, das dann in den
folgenden Abschnitten durchgeprobt wird. Indiz für diese Betrachtungsweise
ist auch die versuchsweise gewählte extraterrestrische Sicht (362, 23-30), der
die Erde als der „asketische Stern" (362, 26) erschiene.
Dellinger 2017, 43 stellt für GM III 11 einen markanten Stilwechsel fest: „Wa-
ren die vorhergehenden Abschnitte noch weithin von einem gelassen dahin-
plätschernden, kolloquialen und teils jovialen Ton geprägt, setzt nun ein nach-
drückliches Pathos ein."
Während in GM III 11 asketische Priester ein universelles Phänomen dar-
stellen, hat GM I 6 ihr Auftreten als politisch bestimmender Kaste an einem
bestimmten frühgeschichtlichen Ort festgemacht (KSA 5, 264-266). Wie diese
einstige Priesteraristokratie, deren Ziel auch schon das Nichts war, mit dem
universellen Priestertyp von GM III 11 zusammengeht, bleibt unerörtert und
unklar.
Mindestens zwei wesentliche Fragen wirft GM III 11 auf. Erstens: Wer sind
die „asketischen Priester", und zweitens: Warum sind sie ein Problem? Ganz
offensichtlich handelt es sich bei den „Priestern" nicht einfach und vielleicht
nicht einmal in erster Linie um Funktionäre einer institutionalisierten Religion,
die bestimmte Kulthandlungen vollziehen dürfen und damit ihr Auskommen
haben. Vielmehr inkorporiert diese Priester-Typisierung die antikatholischen
Affekte der Reformationszeit und die antiklerikalen Affekte der Aufklärung, um
sie, physiologisch-psychologisch grundiert, zur Grundlage einer polemisch ak-
zentuierten Generaldeutung der menschlichen Wirklichkeit in Geschichte und
Gegenwart zu machen. „Dass der Priester für Nietzsche ein moralischer Typus
ist, das zeigt sich darin, dass sein religionsgeschichtlicher Ort gleichgültig
wird." (Trillhaas 1983, 42) Der asketische Priester - abgesehen von der durch
GM schwerlich zu beantwortenden Frage, was er „für Nietzsche" ist - ist aber
nicht einfach nur der Asket, der Heilige, der dieser Welt abgestorben ist, son-
dern gerade darin Priester, dass er auf andere Menschen wirkt, indem er mit
ihnen interagiert - weil er predigt, opfert, belehrt, anleitet, vorlebt. Er gibt sich
als Mittler zwischen einer höheren Wirklichkeit und den leidenden Menschen,
was ihm eine privilegierte Machtposition sichert, ganz gleichgültig, ob er Amts-
träger einer Kirche, Schamane eines Stammes oder Vorsteher eines Vereins zur
moralischen Aufrüstung ist - oder auch nichts von alledem, sondern nur die
fromme Großmutter, die ihren Enkeln den Glauben an die Nichtswürdigkeit
der Welt einimpft. Priester sind Domestikatoren, aber nicht alle Domestikato-
ren - siehe die früher besprochenen Eroberer-Eliten - sind Priester. Auffällig
die ihr entgegengesetzte Position gegeneinander ausspielen könnte. Damit
stünde es doch dem „,Ernst'" (361, 16) entgegen, der mit dem asketischen Ideal
liiert ist. Der ganze Abschnitt lässt sich gleichsam als Szenenanweisung für
ein Spiel der Wertungsgegensätze interpretieren — ein Spiel, das dann in den
folgenden Abschnitten durchgeprobt wird. Indiz für diese Betrachtungsweise
ist auch die versuchsweise gewählte extraterrestrische Sicht (362, 23-30), der
die Erde als der „asketische Stern" (362, 26) erschiene.
Dellinger 2017, 43 stellt für GM III 11 einen markanten Stilwechsel fest: „Wa-
ren die vorhergehenden Abschnitte noch weithin von einem gelassen dahin-
plätschernden, kolloquialen und teils jovialen Ton geprägt, setzt nun ein nach-
drückliches Pathos ein."
Während in GM III 11 asketische Priester ein universelles Phänomen dar-
stellen, hat GM I 6 ihr Auftreten als politisch bestimmender Kaste an einem
bestimmten frühgeschichtlichen Ort festgemacht (KSA 5, 264-266). Wie diese
einstige Priesteraristokratie, deren Ziel auch schon das Nichts war, mit dem
universellen Priestertyp von GM III 11 zusammengeht, bleibt unerörtert und
unklar.
Mindestens zwei wesentliche Fragen wirft GM III 11 auf. Erstens: Wer sind
die „asketischen Priester", und zweitens: Warum sind sie ein Problem? Ganz
offensichtlich handelt es sich bei den „Priestern" nicht einfach und vielleicht
nicht einmal in erster Linie um Funktionäre einer institutionalisierten Religion,
die bestimmte Kulthandlungen vollziehen dürfen und damit ihr Auskommen
haben. Vielmehr inkorporiert diese Priester-Typisierung die antikatholischen
Affekte der Reformationszeit und die antiklerikalen Affekte der Aufklärung, um
sie, physiologisch-psychologisch grundiert, zur Grundlage einer polemisch ak-
zentuierten Generaldeutung der menschlichen Wirklichkeit in Geschichte und
Gegenwart zu machen. „Dass der Priester für Nietzsche ein moralischer Typus
ist, das zeigt sich darin, dass sein religionsgeschichtlicher Ort gleichgültig
wird." (Trillhaas 1983, 42) Der asketische Priester - abgesehen von der durch
GM schwerlich zu beantwortenden Frage, was er „für Nietzsche" ist - ist aber
nicht einfach nur der Asket, der Heilige, der dieser Welt abgestorben ist, son-
dern gerade darin Priester, dass er auf andere Menschen wirkt, indem er mit
ihnen interagiert - weil er predigt, opfert, belehrt, anleitet, vorlebt. Er gibt sich
als Mittler zwischen einer höheren Wirklichkeit und den leidenden Menschen,
was ihm eine privilegierte Machtposition sichert, ganz gleichgültig, ob er Amts-
träger einer Kirche, Schamane eines Stammes oder Vorsteher eines Vereins zur
moralischen Aufrüstung ist - oder auch nichts von alledem, sondern nur die
fromme Großmutter, die ihren Enkeln den Glauben an die Nichtswürdigkeit
der Welt einimpft. Priester sind Domestikatoren, aber nicht alle Domestikato-
ren - siehe die früher besprochenen Eroberer-Eliten - sind Priester. Auffällig