Stellenkommentar GM III 13, KSA 5, S. 366-367 479
366, 29 f. indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht] Vgl. NK 260, 12-14. Wäh-
rend in der von N. zu menschlicher Herde(nbildung) gerne herangezogenen
Literatur wie z. B. Spencer 1879 und Galton 1883 von Hirten wenig die Rede ist
und auch bei N. selbst Hirten „eher Randfiguren" zu sein scheinen (Bröckling
2017, 27), ist doch bei ihrem Auftreten ihre negative Zeichnung auffällig. Dabei
scheint die Zielrichtung der Kritik zu changieren: Akzentuiert wird wechselwei-
se die symbiotisch Verbundenheit des Hirten mit der Herde oder aber seine
Bedeutung als Inbegriff von Leitungs- und Herrschaftshandeln, die ihm die
platonisch-christliche Tradition verschafft hat. In GM III 13 hat es den An-
schein, als ob der Hirte quasi nur eine Funktion der Herde wäre, anstatt sie
wie ein Tyrann zu formen. Bei Espinas 1879, 166 hat sich N. über die Anfänge
der Zähmung von Tieren durch Menschen kundig gemacht: „Aber es genügt
nicht, dass der Mensch den Willen bricht, er muss ihn auch an sich fesseln.
Dabei kommt ihm eine mächtige erbliche Neigung zu Hülfe, der Instinct der
freiwilligen Unterordnung unter Intelligenz und Stärke, den man bei allen
domesticirten Thieren im freien Zustande antrifft." (N.s Unterstreichungen,
mehrfache Randstriche.) Und dann interessiert N. einem langen Randstrich zu-
folge vor allem, wie sich der Hirte von seiner Herde abhängig macht: „Man
glaubt kaum, bis zu welchem Grade sowohl in unserer, auf diese gleichgültigen
Thatsachen so unaufmerksamen Civilisation, als noch mehr auf der Grenze
zwischen Civilisation und Barbarei, die Freundschaft zwischen dem Hirten und
seiner Heerde gehen kann. ,Was für ein Leben führen diese Leute,' sagt Brehm
von den Fjeldlappen. ,Nicht sie bestimmen es, sondern ihre Heerde: die Ren-
thiere gehen, wohin sie wollen, und die Lappen müssen ihnen folgen... Der
Fjeldlappe führt ein wahres Hundeleben.'" (Ebd.)
367, 1-3 Der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als
irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, - er ist das kranke Thier] Vgl. NK
KSA 5, 81, 20-23, zur Krankheitsmetapher auch Aurenque 2013, 51 f. Die Neue
Phänomenologie kann dieser Beobachtung, die N. selbst als Autormeinung zu-
geschrieben wird, manches abgewinnen: „Behauptet man mit Nietzsche, der
Mensch sei ,das noch nicht festgestellte Thier' ([KSA] 5, 81), und fügt man hin-
zu, er werde niemals ein festgestelltes Tier sein, so versetzt man den Menschen
auf die Schwelle zwischen Natur und Kultur. Der Mensch ist nicht mehr festge-
stellt durch naürliche Instinkte und noch nicht festgestellt durch kulturelle Nor-
men." (Waldenfels 1993, 507).
367, 10 f. so dass ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder
Gegenwart wühlt] Nach Platon: Apologie 30e sieht sich Sokrates als Sporn oder
Stachel im Fleisch der Athener: „eav ydp pe anoKTEivqTE, ov pqöiwq dÄÄov
TOLOVTOV EUpfpETE, OlTEXvWg, El Kal yEÄOLOTEpOV EOTEIV, npOOKEipEVOV Tf[/80/
366, 29 f. indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht] Vgl. NK 260, 12-14. Wäh-
rend in der von N. zu menschlicher Herde(nbildung) gerne herangezogenen
Literatur wie z. B. Spencer 1879 und Galton 1883 von Hirten wenig die Rede ist
und auch bei N. selbst Hirten „eher Randfiguren" zu sein scheinen (Bröckling
2017, 27), ist doch bei ihrem Auftreten ihre negative Zeichnung auffällig. Dabei
scheint die Zielrichtung der Kritik zu changieren: Akzentuiert wird wechselwei-
se die symbiotisch Verbundenheit des Hirten mit der Herde oder aber seine
Bedeutung als Inbegriff von Leitungs- und Herrschaftshandeln, die ihm die
platonisch-christliche Tradition verschafft hat. In GM III 13 hat es den An-
schein, als ob der Hirte quasi nur eine Funktion der Herde wäre, anstatt sie
wie ein Tyrann zu formen. Bei Espinas 1879, 166 hat sich N. über die Anfänge
der Zähmung von Tieren durch Menschen kundig gemacht: „Aber es genügt
nicht, dass der Mensch den Willen bricht, er muss ihn auch an sich fesseln.
Dabei kommt ihm eine mächtige erbliche Neigung zu Hülfe, der Instinct der
freiwilligen Unterordnung unter Intelligenz und Stärke, den man bei allen
domesticirten Thieren im freien Zustande antrifft." (N.s Unterstreichungen,
mehrfache Randstriche.) Und dann interessiert N. einem langen Randstrich zu-
folge vor allem, wie sich der Hirte von seiner Herde abhängig macht: „Man
glaubt kaum, bis zu welchem Grade sowohl in unserer, auf diese gleichgültigen
Thatsachen so unaufmerksamen Civilisation, als noch mehr auf der Grenze
zwischen Civilisation und Barbarei, die Freundschaft zwischen dem Hirten und
seiner Heerde gehen kann. ,Was für ein Leben führen diese Leute,' sagt Brehm
von den Fjeldlappen. ,Nicht sie bestimmen es, sondern ihre Heerde: die Ren-
thiere gehen, wohin sie wollen, und die Lappen müssen ihnen folgen... Der
Fjeldlappe führt ein wahres Hundeleben.'" (Ebd.)
367, 1-3 Der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als
irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, - er ist das kranke Thier] Vgl. NK
KSA 5, 81, 20-23, zur Krankheitsmetapher auch Aurenque 2013, 51 f. Die Neue
Phänomenologie kann dieser Beobachtung, die N. selbst als Autormeinung zu-
geschrieben wird, manches abgewinnen: „Behauptet man mit Nietzsche, der
Mensch sei ,das noch nicht festgestellte Thier' ([KSA] 5, 81), und fügt man hin-
zu, er werde niemals ein festgestelltes Tier sein, so versetzt man den Menschen
auf die Schwelle zwischen Natur und Kultur. Der Mensch ist nicht mehr festge-
stellt durch naürliche Instinkte und noch nicht festgestellt durch kulturelle Nor-
men." (Waldenfels 1993, 507).
367, 10 f. so dass ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder
Gegenwart wühlt] Nach Platon: Apologie 30e sieht sich Sokrates als Sporn oder
Stachel im Fleisch der Athener: „eav ydp pe anoKTEivqTE, ov pqöiwq dÄÄov
TOLOVTOV EUpfpETE, OlTEXvWg, El Kal yEÄOLOTEpOV EOTEIV, npOOKEipEVOV Tf[/80/