486 Zur Genealogie der Moral
Abscheu, den er da fühlt, kehrt sich gegen ihn selbst. Auch ich bin dem Altern
unterworfen und von des Alters Macht nicht frei. Sollte auch ich, der ich dem
Altern unterworfen und von des Alters Macht nicht frei bin, Abscheu, Wider-
willen und Ekel fühlen, wenn ich einen Andern im Alter sehe? Das käme mir
nicht zu.' Indem ich, ihr Jünger, also bei mir dachte, gieng in mir aller Jugend-
muth, der der Jugend innewohnt, unter." (Ebd., 104) Dieser Mechanismus der
Ekelübertragung auf den Sich-Ekelnden ist der gefährliche Mechanismus, den
GM III 14 im Auge hat. Zu Ekel und Mitleid bei Schopenhauer siehe die Einlei-
tung von Julius Frauenstädt zu der von N.s benutzten Werkausgabe: Schopen-
hauer 1873-1874, 1/1, CXII.
368, 13 f. Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen
und Ohren] N.s Schriften der achtziger Jahre bieten olfaktorische, akustische
und visuelle Metaphern zur Charakterisierung von Erkenntnisprozessen in rei-
cher Fülle und markieren die Abkehr von einem rein intellektualistischen Er-
kenntniskonzept, vgl. hierzu z. B. Blondel 2006.
368, 15-18 etwas wie Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft, — ich rede, wie billig,
von den Culturgebieten des Menschen, von jeder Art „Europa", das es nachgera-
de auf Erden giebt] Vgl. NK 277, 19 f.
368, 31-369, 2 Auf solchem Boden der Selbstverachtung, einem eigentlichen
Sumpfboden, wächst jedes Unkraut, jedes Giftgewächs, und alles so klein, so
versteckt, so unehrlich, so süsslich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und
Nachgefühle; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkei-
ten] Für Martha Nussbaum zeigen Stellen wie diese, dass N. in seiner Mitleids-
kritik stoischen Positionen sehr nahe komme. „Like the Stoic tradition, Nietz-
sche observes that pity is very closely linked to the desire to retaliate; for once
we ascribe significance to the events of life that others can harm, we have no
end of occasions for envy and resentment against those who cause us to suffer
in one way or another. This argument is most fully made in the Third Essay of
the Genealogy. Here Nietzsche argues that the ,veiled glance' of pity, which
looks inward on oneself with ,a profound sadness,' acknowledging one's weak-
ness and inadequacy — this glance of the pitier is the basis of hatred, directed
against a world that makes human beings suffer, and against all those, in that
world, who are self-respecting and self-commanding: ,It is on such soil, on
swampy ground, that every weed, every poisonous plant grows... Here the
worms of vengefulness and rancor swarm...' [...] This material shows more
clearly than anything else the extent of Nietzsche's acceptance of the full Stoic
position regarding the extirpation of passion." (Nussbaum 1994, 154). Freilich
reflektiert Nussbaum nicht darauf, wie sehr N. seinen Lesern Leidenschaft ab-
Abscheu, den er da fühlt, kehrt sich gegen ihn selbst. Auch ich bin dem Altern
unterworfen und von des Alters Macht nicht frei. Sollte auch ich, der ich dem
Altern unterworfen und von des Alters Macht nicht frei bin, Abscheu, Wider-
willen und Ekel fühlen, wenn ich einen Andern im Alter sehe? Das käme mir
nicht zu.' Indem ich, ihr Jünger, also bei mir dachte, gieng in mir aller Jugend-
muth, der der Jugend innewohnt, unter." (Ebd., 104) Dieser Mechanismus der
Ekelübertragung auf den Sich-Ekelnden ist der gefährliche Mechanismus, den
GM III 14 im Auge hat. Zu Ekel und Mitleid bei Schopenhauer siehe die Einlei-
tung von Julius Frauenstädt zu der von N.s benutzten Werkausgabe: Schopen-
hauer 1873-1874, 1/1, CXII.
368, 13 f. Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen
und Ohren] N.s Schriften der achtziger Jahre bieten olfaktorische, akustische
und visuelle Metaphern zur Charakterisierung von Erkenntnisprozessen in rei-
cher Fülle und markieren die Abkehr von einem rein intellektualistischen Er-
kenntniskonzept, vgl. hierzu z. B. Blondel 2006.
368, 15-18 etwas wie Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft, — ich rede, wie billig,
von den Culturgebieten des Menschen, von jeder Art „Europa", das es nachgera-
de auf Erden giebt] Vgl. NK 277, 19 f.
368, 31-369, 2 Auf solchem Boden der Selbstverachtung, einem eigentlichen
Sumpfboden, wächst jedes Unkraut, jedes Giftgewächs, und alles so klein, so
versteckt, so unehrlich, so süsslich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und
Nachgefühle; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkei-
ten] Für Martha Nussbaum zeigen Stellen wie diese, dass N. in seiner Mitleids-
kritik stoischen Positionen sehr nahe komme. „Like the Stoic tradition, Nietz-
sche observes that pity is very closely linked to the desire to retaliate; for once
we ascribe significance to the events of life that others can harm, we have no
end of occasions for envy and resentment against those who cause us to suffer
in one way or another. This argument is most fully made in the Third Essay of
the Genealogy. Here Nietzsche argues that the ,veiled glance' of pity, which
looks inward on oneself with ,a profound sadness,' acknowledging one's weak-
ness and inadequacy — this glance of the pitier is the basis of hatred, directed
against a world that makes human beings suffer, and against all those, in that
world, who are self-respecting and self-commanding: ,It is on such soil, on
swampy ground, that every weed, every poisonous plant grows... Here the
worms of vengefulness and rancor swarm...' [...] This material shows more
clearly than anything else the extent of Nietzsche's acceptance of the full Stoic
position regarding the extirpation of passion." (Nussbaum 1994, 154). Freilich
reflektiert Nussbaum nicht darauf, wie sehr N. seinen Lesern Leidenschaft ab-