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Stellenkommentar GM III 15, KSA 5, S. 371 493

15.
Wenn also gemäß GM III 14 zwischen Gesunden und Kranken eine scharfe
Apartheid herrschen soll und den Gesunden nicht die Aufgabe zukommen kön-
ne, die Kranken zu pflegen, braucht es „Ärzte[.] und Krankenwärter[.], die
selber krank sind" (372, 9 f.). Und diese Rolle werde nun vom asketischen
Priester übernommen, dessen Herrschaftssphäre die Leidenden seien. Selbst
sei er zwar gleichfalls krank, aber ausgestattet mit einem ungestillten „Willen
zur Macht" (372, 21), der ihn die Herde aus Kranken zusammenzuzwingen, zu
beherrschen, aber auch ,,[g]egen die Gesunden" (372, 25) zu verteidigen heiße.
Dieser Priester gebe sich den Anschein eines Raubtieres und vermöge „über
Leidende jederzeit Herr zu werden" (373, 12 f.). Aber er heile nicht, sondern
vergifte stattdessen noch die Wunden, indem er das Leiden durch die Idee der
Sünde perpetuiere.
Innerhalb seiner Herde stelle das „Ressentiment" (373 26 f.) ein gewalti-
ges Zersetzungsrisiko dar. Der Priester finde nun seine Bestimmung darin, die
Richtung des Ressentiments zu verändern. Als natürlichen Mechanismus stellt
GM III 15 das angebliche Faktum dar, dass ein Leidender nach der Ursache,
dem Täter, „einen für Leid empfänglichen schuldigen Thäter" (374, 1) su-
che, an dem er dann seine negativen Affekte abreagieren könnte. Die dafür
gegebene physiologische Erklärung besagt, „die Affekt-Entladung" (374, 4) am
vermeintlich Verantwortlichen sei ein Versuch, das eigene Leiden zu betäuben.
GM III 15 generalisiert diese Erklärung - als „Vermuthung" (374, 7) des spre-
chenden Subjekts gekennzeichnet - auch für die Rache und Verwandtes, die
man nicht als bloße Reaktion auf negative Einwirkung missverstehen dürfe.
Vielmehr bestimme sie das „Verlangen [...] nach Betäubungvon Schmerz
durch Affekt" (374, 9 f.). Es gehe also bei Rache und Ressentiment nicht um
Schmerzvermeidung, sondern darum, diesen Schmerz wenigstens für die Dau-
er des Abreaktionsakts zum Vergessen zu bringen. Der Leidbeladene wisse
nicht um die wirklichen physiologischen Ursachen seines Leidens, sondern su-
che diese Ursache in Personen, namentlich in denjenigen, die mehr oder weni-
ger zufällig um ihn herum leben, beispielsweise in Angehörigen. Die Lösung,
die der Priester anbiete, besteht darin, das leidende Subjekt selbst für sein
Leiden verantwortlich zu machen. Es werden also nicht die körperlichen Ursa-
chen dingfest gemacht und kuriert, wie man das von jemandem erwarten
könnte, der therapeutisch ernsthaft interessiert ist. Vielmehr wird rein physio-
logische Ursächlichkeit priesterlich umgemünzt zu einem rein moralischen
Schuld-Verhältnis. Der Priester lenkt den negativen Affekt auf das leidende
Subjekt um. Das hätte - ohne dass GM III 15 das direkt namhaft machen müss-
te - die Folge, dass die Leidenden ihr Leiden zu betäuben verstünden, indem
 
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