Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
546 Zur Genealogie der Moral

tragische Situationen, nicht gelten lassen, aber es gelang ihm nicht einmal so
viele aufzufinden" (Düntzer 1882, 156).

21.
Dieser Abschnitt bilanziert die priesterlichen Bemühungen, den Leidenssymp-
tomen durch Gefühlsausschweifung Einhalt zu gebieten, und kommt dabei zu
dem absehbaren Ergebnis, dass diese vorgebliche Verbesserung der Mensch-
heit durch das priesterliche „System von Behandlung" (391, 11) gewiss zur Zäh-
mung und Schwächung der Menschen im Allgemeinen geführt habe, vor allem
aber dazu, die Kranken noch kränker zu machen. Diese wenig überraschende
Schlussfolgerung soll dann beglaubigt werden durch Beispiele aus der spätmit-
telalterlich-frühneuzeitlichen Religions- und Mentalitätsgeschichte, als extre-
mistische Frömmler laut und delirierend durch Europa zogen. Daran könne
man erkennen, dass „das asketische Ideal" (392, 12 f.) noch vor dem nament-
lich durch die „Germanen" (392, 26) verbreiteten Alkohol sowie der Syphilis
„das eigentliche Verhängniss in der Gesundheitsgeschichte des euro-
päischen Menschen" (392, 21-23) gewesen sei.
Auch hier bleiben Fragen offen: Denn mit alledem wird noch immer ausge-
spart, inwiefern die hauptsächlich auf die ja ohnehin schon Kranken gerichte-
ten, (pseudo)therapeutischen Bestrebungen der asketischen Priester denn den
eigentlich Starken haben gefährlich werden können. Ihnen schien die Sorge
des sprechenden „Wir" doch zunächst zu gelten. Anscheinend greift, ohne dass
dies eigens gesagt würde, das allgemeine religiös-asketische Leiden trotz deren
Pathos der Distanz auf die Starken über und affiziert auch deren Gesundheit.
Ein Vorteil der Argumentation in Begriffen von Gesundheit und Krankheit liegt
ja gerade darin, dass damit Gefahren von Kontamination und Ansteckung aus-
gemalt werden können, gegen die nicht einmal der Stärkste gewappnet ist,
ohne dass ausgeführt werden müsste, wie denn solche Kontaminationen und
Ansteckungen genau zustande kommen. Die Suggestion allseitiger Bedrohung
reicht aus, um auch Leser zu verschrecken, die sich bislang noch immun wäh-
nen.
Sodann fällt auf, dass nach GM III 21 die Priester durch Erzeugung emotio-
naler Exaltationen die Triebe nach außen abführen, während es doch nach
GM III 20 ihre Taktik gewesen sei, die Richtung dieser Triebe nach innen zu
lenken. Wohl sollen die kollektiven Erregungszustände als sekundäre, äußere
Folgen der Armesünder-Selbstzerfleischungspraktiken erscheinen; sie haben
aber anscheinend keinerlei heilsame Wirkung, nicht einmal die Veitstänze
(391, 30), die in GT noch als Restposten alter dionysischer Begeisterung in ho-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften