574 Zur Genealogie der Moral
zufügung zur Titelauflage von 1887 (KSA 3, 11-17). Die Wahrheitsthematik wird
hier ausdrücklich nur kurz in M Vorrede 3 angesprochen. Näher hätte jeden-
falls ein Hinweis auf die ebenfalls auf Herbst 1886 datierte Vorrede zu FW: In
FW Vorrede 4 wird der „Wille zur Wahrheit" (KSA 3, 352, 5 f.) expressis verbis -
zugunsten eines Bekenntnisses zum schönen, künstlerischen Schein - verab-
schiedet.
25.
Mit einem dezidierten „Nein!" (402, 2) beginnt GM III 25, und zwar als Antwort
auf die ja schon in den beiden vorangegangenen Abschnitten zurückgewiesene
Mutmaßung, ausgerechnet die Wissenschaft sei die geborene Gegenspielerin
des asketischen Ideals. Dabei erscheint die Wissenschaft als konstitutionell
schwach und schwankend, sei sie doch „niemals wertheschaffend" (402, 9),
sondern vielmehr selbst eines Wertideals bedürftig. Und wenn der Eindruck
entstehe, Wissenschaft bekämpfe das asketische Ideal, so berühre dieser
Kampf in Wahrheit doch nur die äußere „Einkleidung" (402, 14) dieses Ideals -
also etwa die christliche Religion - und revitalisiere es geradezu, weil sie mit
ihm doch auf derselben Grundlage stehe, nämlich einer „Überschätzung der
Wahrheit" (402, 19 f.). Wer nach dem Wert des asketischen Ideals frage, frage
auch nach dem Wert der Wissenschaft, die die Wahrheit wolle - im Unter-
schied zur Kunst, in der der „Wille zur Täuschung" regiere (402, 30). Um
eine negative Antwort auf die Wertabschätzung vorwegzunehmen, beginnt das
„Ich" mit der „Verarmung des Lebens" (403, 8 f.), die sich bei den so sehr
um „Ernst" (403, 11) bemühten Wissenschaftlern bemerkbar mache und vom
Sprecher mit Stoffwechselproblemen assoziiert wird, bevor eine geschichtsphi-
losophische These aufs Tapet kommt: Ihr zufolge seien Zeiten, in denen Ge-
lehrte und mit ihnen also die Wissenschaft gesellschaftlich dominant würden,
Niedergangsepochen. Das Eingangs-„Nein!" wird noch einmal ausgesprochen
(403, 24) und um die Aussage ergänzt, die „,moderne Wissenschaft'" sei „einst-
weilen die beste Bundesgenossin des asketischen Ideals" (403, 24-26). Was
nach der „modernen" Wissenschaft folgen wird, die mit so pathetischem Ernst
einherschreitet, und was sich nach dem „einstweilen" wohl ereignen wird, sol-
len die Leser fragen, denen GM III 24 in Erinnerung gerufen hatte, dass N. auch
der Verfasser eines Buches war, das die Losung „fröhliche Wissenschaft" im
Titel trägt.
Die zweite Hälfte von GM III 25 wendet sich den „berühmten Siege[n]"
(403, 33) zu, die die Wissenschaft scheinbar gegen das asketische Ideal erstrit-
ten hat, bei denen sie aber tatsächlich nur zu dessen Stärkung beigetragen
zufügung zur Titelauflage von 1887 (KSA 3, 11-17). Die Wahrheitsthematik wird
hier ausdrücklich nur kurz in M Vorrede 3 angesprochen. Näher hätte jeden-
falls ein Hinweis auf die ebenfalls auf Herbst 1886 datierte Vorrede zu FW: In
FW Vorrede 4 wird der „Wille zur Wahrheit" (KSA 3, 352, 5 f.) expressis verbis -
zugunsten eines Bekenntnisses zum schönen, künstlerischen Schein - verab-
schiedet.
25.
Mit einem dezidierten „Nein!" (402, 2) beginnt GM III 25, und zwar als Antwort
auf die ja schon in den beiden vorangegangenen Abschnitten zurückgewiesene
Mutmaßung, ausgerechnet die Wissenschaft sei die geborene Gegenspielerin
des asketischen Ideals. Dabei erscheint die Wissenschaft als konstitutionell
schwach und schwankend, sei sie doch „niemals wertheschaffend" (402, 9),
sondern vielmehr selbst eines Wertideals bedürftig. Und wenn der Eindruck
entstehe, Wissenschaft bekämpfe das asketische Ideal, so berühre dieser
Kampf in Wahrheit doch nur die äußere „Einkleidung" (402, 14) dieses Ideals -
also etwa die christliche Religion - und revitalisiere es geradezu, weil sie mit
ihm doch auf derselben Grundlage stehe, nämlich einer „Überschätzung der
Wahrheit" (402, 19 f.). Wer nach dem Wert des asketischen Ideals frage, frage
auch nach dem Wert der Wissenschaft, die die Wahrheit wolle - im Unter-
schied zur Kunst, in der der „Wille zur Täuschung" regiere (402, 30). Um
eine negative Antwort auf die Wertabschätzung vorwegzunehmen, beginnt das
„Ich" mit der „Verarmung des Lebens" (403, 8 f.), die sich bei den so sehr
um „Ernst" (403, 11) bemühten Wissenschaftlern bemerkbar mache und vom
Sprecher mit Stoffwechselproblemen assoziiert wird, bevor eine geschichtsphi-
losophische These aufs Tapet kommt: Ihr zufolge seien Zeiten, in denen Ge-
lehrte und mit ihnen also die Wissenschaft gesellschaftlich dominant würden,
Niedergangsepochen. Das Eingangs-„Nein!" wird noch einmal ausgesprochen
(403, 24) und um die Aussage ergänzt, die „,moderne Wissenschaft'" sei „einst-
weilen die beste Bundesgenossin des asketischen Ideals" (403, 24-26). Was
nach der „modernen" Wissenschaft folgen wird, die mit so pathetischem Ernst
einherschreitet, und was sich nach dem „einstweilen" wohl ereignen wird, sol-
len die Leser fragen, denen GM III 24 in Erinnerung gerufen hatte, dass N. auch
der Verfasser eines Buches war, das die Losung „fröhliche Wissenschaft" im
Titel trägt.
Die zweite Hälfte von GM III 25 wendet sich den „berühmten Siege[n]"
(403, 33) zu, die die Wissenschaft scheinbar gegen das asketische Ideal erstrit-
ten hat, bei denen sie aber tatsächlich nur zu dessen Stärkung beigetragen