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Stellenkommentar GM III 25, KSA 5, S. 402 575

habe. Als Hauptbeispiel dient dabei die Ablösung des christlich-geozentrischen
Weltbildes durch das kopernikanisch-heliozentrische, mit dem die Astronomie
schließlich den Menschen in einen hinteren Winkel des Universums verbannt
habe - ebenso, wie die biologische Forschung lehrte, den Menschen als Tier
unter Tieren zu verstehen. Die Folge sind Demütigung des menschlichen Stol-
zes, seine Selbstherabsetzung, so dass das sprechende „Ich" schnell zur Verall-
gemeinerung fortschreiten kann, „alle Wissenschaft" sei darauf erpicht, „dem
Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden" (404, 26-29). Damit
erweise sich Wissenschaft als quasi ideales Einfallstor für das asketische Ideal,
was abschließend an Kant und seinen Epigonen deutlich gemacht wird, die
zwar die alten theologischen Begriffe eliminiert hätten, aber doch nur, um ei-
nen neuen „Schleichweg" (405, 12) zum alten Ideal zu finden (vgl. NK KSA 6,
176, 27-32; Inspirationsquelle N.s ist dort v. a. Roberty 1887, 38-40). Jetzt werde
aus dem Nicht-Wissen als dem Nicht-wissen-Können auch unverfroren Gott
selbst wieder herausgezaubert (vgl. 405, 25 f.).
Der Gang in die Wissenschaftsgeschichte, der großzügig ausblendet, wie
der Mensch seit der Renaissance dank Wissenschaft auch an Selbstbewusstsein
gewonnen hat und statt dessen ausschließlich die narzisstischen Kränkungen
aufsummiert, soll das Eingangsvotum unabweisbar machen, dass nämlich die
Wissenschaft zu schwach sei, eigene Werte zu bilden, und dass sie sich damit
vom Gängelband vorgegebener Werte nicht losreißen könne. Die Desillusionie-
rung angesichts der eigenen peripheren Stellung im Kosmos soll die Wissen-
schaft und ihre Akteure der lähmenden Macht des Nichts aussetzen, der sie
offenbar nur entgehen können, wenn sie dem asketischen Ideal ihre Huldigung
darbringen - mit einem neu aufgeputzten Gott. Die beigebrachten wissen-
schaftsgeschichtlichen Evidenzen mögen ein wenig dünn anmuten für derart
weitreichende mentalitätsgeschichtliche Folgerungen.
Hans Blumenberg merkt zu GM III 25 an: „Mit Recht sieht Nietzsche in der
kopernikanischen Reform den Versuch, nochmals den Kosmos zu retten oder
wiederherzustellen; mit Unrecht unterstellt er, daß dieser Versuch seiner Ab-
sicht und seiner primären Wirkung nach zu Lasten des Menschen durchgeführt
worden sei" (Blumenberg 1988, 153).
402, 5 f. Dazu steht die Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber] Noch
nicht auf oder für sich selber stehen zu können, hat GM III 5 den Künstlern
zum Vorwurf gemacht, vgl. NK 344, 25-29.
402, 16 f. sie macht das Leben in ihm wieder frei, indem sie das Exoterische an
ihm verneint] Die Wissenschaft trifft demnach das asketische Ideal nicht im
Kern, sondern führt durch die Kritik an seiner äußerlichen Hülle sogar zu sei-
ner Wiederbelebung (ähnlich wie die Reformation nach GM I 16, KSA 5, 287, 19
 
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