Stellenkommentar GM III 27, KSA 5, S. 408 595
lems aus. „An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von
nun an - daran ist kein Zweifel - die Moral zu Grunde" (410, 30-32): Dies
stehe als weltgeschichtliches Schicksal in den nächsten zwei Jahrhunderten
an.
GM III 27 unterstreicht noch einmal mit erheblichem rhetorischem Auf-
wand den bereits in den vorangegangenen Abschnitten behaupteten Konnex
zwischen dem Willen zu Wahrheit und dem asketischen Ideal, kann ihn jedoch
auch nicht als zwingend ausweisen. Aufmerksame Leser der Dritten Abhand-
lung könnten einwenden, dass der asketische Priester gerade nicht vom Willen
zur Wahrheit, sondern von einem Willen zur Täuschung beseelt werde. Warum
also soll der Wahrheitswille das asketische Ideal zum Ausdruck bringen? Nur
deshalb, weil er fokussiert ist, also auf viele Dinge verzichtet, um sich durchzu-
setzen? Dann wäre freilich jede Form der Konzentration asketisch. Oder des-
halb, weil das asketische Ideal bereit ist, der Wahrheit alles zu opfern, also
etwa auch das Leben? Aber ist ein Gegensatz von „Wahrheit" und „Leben"
tauglich? Inwiefern liegen „Wahrheit" und „Leben" auf einer gemeinsamen
Ebene, auf der sie sich möglicherweise ins Gehege kommen und miteinander
konkurrieren könnten? Weitere Schwierigkeiten liegen auf der Hand:
1. Von welcher Wahrheit ist überhaupt die Rede? Nur von der großen meta-
physischen Wahrheit - Gott als Wahrheit - oder auch von der Wahrheit im
Kleinen, also Wissenschaft als Suche nach wahren, wenigstens wahrscheinli-
chen Sätzen? In diesem Sinne sucht auch eine nachmetaphysische Wissen-
schaft nach Wahrheit. Dass diese kleinen Wahrheiten große Wahrheiten ver-
nichten - minutiae der historischen Bibelkritik oder der astronomischen For-
schung können ein ganzes dogmatisches System zum Einsturz bringen -, käme
noch hinzu.
2. Hat der Wahrheitswille erst einmal die falschen (metaphysischen) Wahr-
heiten vernichtet, greift er auf die moralischen Wahrheiten aus und vernichtet
sie, suggeriert GM III 27. Inwiefern? Etwa insofern „wir" erkennen, dass unsere
moralischen Überzeugungen - z. B. Gleichberechtigung aller Menschen - nicht
wahr sind und „wir" sie deshalb preisgeben? Nicht „wahr" in irgendeinem me-
taphysischen Sinne oder doch als kleine empirische Faktenwahrheit?
3. Gesetzt, der Wille zur Wahrheit ist Ausdruck des asketischen Ideals, wa-
rum sollten „wir" diesem Willen dann nicht in die Radspeichen greifen, bevor
er die Moral zersetzt? Warum sollten wir dem Willen zur Wahrheit hörig blei-
ben? Sollten wir ihn nicht aufgeben, anstatt ihm die Moral zu opfern?
4. Soll der Wille zur Wahrheit mit einem Willen zur Unwahrheit oder zur
Täuschung konterkariert werden, wie er angeblich der Kunst eigen ist (vgl.
GM III 25, KSA 5, 402, 27-30)? Wenn „wir" die Unwahrheit wollen sollten, müss-
ten „wir" dann nicht wissen, was die Wahrheit ist? Dann jedoch blieben „wir"
lems aus. „An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von
nun an - daran ist kein Zweifel - die Moral zu Grunde" (410, 30-32): Dies
stehe als weltgeschichtliches Schicksal in den nächsten zwei Jahrhunderten
an.
GM III 27 unterstreicht noch einmal mit erheblichem rhetorischem Auf-
wand den bereits in den vorangegangenen Abschnitten behaupteten Konnex
zwischen dem Willen zu Wahrheit und dem asketischen Ideal, kann ihn jedoch
auch nicht als zwingend ausweisen. Aufmerksame Leser der Dritten Abhand-
lung könnten einwenden, dass der asketische Priester gerade nicht vom Willen
zur Wahrheit, sondern von einem Willen zur Täuschung beseelt werde. Warum
also soll der Wahrheitswille das asketische Ideal zum Ausdruck bringen? Nur
deshalb, weil er fokussiert ist, also auf viele Dinge verzichtet, um sich durchzu-
setzen? Dann wäre freilich jede Form der Konzentration asketisch. Oder des-
halb, weil das asketische Ideal bereit ist, der Wahrheit alles zu opfern, also
etwa auch das Leben? Aber ist ein Gegensatz von „Wahrheit" und „Leben"
tauglich? Inwiefern liegen „Wahrheit" und „Leben" auf einer gemeinsamen
Ebene, auf der sie sich möglicherweise ins Gehege kommen und miteinander
konkurrieren könnten? Weitere Schwierigkeiten liegen auf der Hand:
1. Von welcher Wahrheit ist überhaupt die Rede? Nur von der großen meta-
physischen Wahrheit - Gott als Wahrheit - oder auch von der Wahrheit im
Kleinen, also Wissenschaft als Suche nach wahren, wenigstens wahrscheinli-
chen Sätzen? In diesem Sinne sucht auch eine nachmetaphysische Wissen-
schaft nach Wahrheit. Dass diese kleinen Wahrheiten große Wahrheiten ver-
nichten - minutiae der historischen Bibelkritik oder der astronomischen For-
schung können ein ganzes dogmatisches System zum Einsturz bringen -, käme
noch hinzu.
2. Hat der Wahrheitswille erst einmal die falschen (metaphysischen) Wahr-
heiten vernichtet, greift er auf die moralischen Wahrheiten aus und vernichtet
sie, suggeriert GM III 27. Inwiefern? Etwa insofern „wir" erkennen, dass unsere
moralischen Überzeugungen - z. B. Gleichberechtigung aller Menschen - nicht
wahr sind und „wir" sie deshalb preisgeben? Nicht „wahr" in irgendeinem me-
taphysischen Sinne oder doch als kleine empirische Faktenwahrheit?
3. Gesetzt, der Wille zur Wahrheit ist Ausdruck des asketischen Ideals, wa-
rum sollten „wir" diesem Willen dann nicht in die Radspeichen greifen, bevor
er die Moral zersetzt? Warum sollten wir dem Willen zur Wahrheit hörig blei-
ben? Sollten wir ihn nicht aufgeben, anstatt ihm die Moral zu opfern?
4. Soll der Wille zur Wahrheit mit einem Willen zur Unwahrheit oder zur
Täuschung konterkariert werden, wie er angeblich der Kunst eigen ist (vgl.
GM III 25, KSA 5, 402, 27-30)? Wenn „wir" die Unwahrheit wollen sollten, müss-
ten „wir" dann nicht wissen, was die Wahrheit ist? Dann jedoch blieben „wir"