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596 Zur Genealogie der Moral

an die Wahrheit gekettet. Wäre der Wille zur Täuschung als künstlerischer Wil-
le tatsächlich eine nicht-asketische Antwort auf den bisherigen Willen zur
Wahrheit, obwohl ja auch der Künstler ein Meister der Fokussierung, der Kon-
zentration ist, die den Habitus des Asketen bestimmt? Die Abschnitte GM III 2
bis 5 versuchen da vorzubauen und den Künstler trotz mancher Ausnahmen
nicht genuin auf das asketische Ideal verpflichtet zu sehen.
5. Oder wäre die Antwort auf den Willen zur Wahrheit ein Wille zur Un-
Wahrheit in etwas abgewandeltem Sinne, nämlich als Wille zur Gleichgültig-
keit gegenüber der Wahrheitsfrage? Wäre die Lösung eine radikale Relativie-
rung der Wahrheitsfrage, um dem Dilemma der Negation zu entgehen, die un-
auflöslich an den Wahrheitswillen kettet?
6. Wie sieht es vor diesem Hintergrund mit GM insgesamt aus, insofern
dieses Werk so tut, als wäre es von einem Willen zur Wahrheit beseelt - inso-
fern es über die wahre Moralgeschichte im Unterschied zu den bisherigen Ge-
nealogen unterrichten will, die stets nur Falschheiten verbreitet haben? Ist in
diesem Werk zugleich ein künstlerischer oder wahlweise fröhlich-wissen-
schaftlicher Wille zur Täuschung am Werk, nämlich die Dinge nach dem jewei-
ligen Beweisbedürfnis zu arrangieren, zu justieren, umzustellen, die Leser zu
manipulieren mit Abwegen und Scheinargumenten? Und schließlich:
7. Was passiert mit „uns", wenn in „uns" der Wahrheitswille als „Prob-
lem" (410, 29) ans Tageslicht kommt und sich gerade hierin der eigentliche
„Sinn" (410, 28) des Daseins dieses „Wir" zeigt? Die semantische Differenz von
„Sinn" und „Bedeutung" verschwimmt in GM. Ist also die Ausgangsfrage nach
der Bedeutung der asketischen Ideale auch die nach dem Sinn, den sie fürs
Leben haben? Im Falle des „Wir" fände sich dieser Sinn dann gerade im Proble-
matisch-Werden.
408, 30-409, 2 Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhänge
gründlicher und härter angefasst werden (unter dem Titel „Zur Geschichte des
europäischen Nihilismus"; ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite:
Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwerthung aller Werthe).] Am
10. 06. 1887 entwirft N. in Lenzerheide eine kurze Abhandlung „Der europä-
ische Nihilismus" (KGW IX 3, N VII 3, 13-24, vgl. NL 1887, KSA 12, 5[71], 211-
217), die er so nie veröffentlichen wird, dann aber in AC wiederverwertet, vgl.
NK 172, 25 f. Ebenso wenig hat N. - trotz wiederholter öffentlicher Ankündi-
gung, nicht allein hier, sondern auch auf einer in KSA 5 fehlenden Liste von
„Friedrich Nietzsche's Schriften nach den Jahren ihrer Entstehung" auf dem
Rückumschlag der Erstausgabe von JGB (Nietzsche 1886a, unpag. Bl.) - ein
Werk, gar ein „Hauptwerk" (vgl. NK 409, 1) unter dem Titel Der Wille zur Macht
verfasst. Im August 1888 gruppiert N. zum letzten Mal Aufzeichnungen, die in
den Willen zur Macht hätten eingehen sollen, um wenig später den Plan eines
 
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