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600 Zur Genealogie der Moral

Das Leiden soll nach der Exposition von GM III 28 weder weggeredet noch
abgeschafft werden. Leiden und Wille - auch hier steht ungenannt wieder
Schopenhauer Pate - sind offenbar Grundcharakteristika menschlicher Exis-
tenz, ohne dass diese spezifische Anthropologie hier näher erläutert (oder auf
ihre allfällige kulturelle Bedingtheit hin befragt) würde. Im Blick auf das Lei-
den werden auch keine Strategien der Betäubung, beispielsweise der stoischen
Negation oder der epikureischen Abspannung als Sinnstiftungsoptionen ins
Spiel gebracht. Und explizit ist nicht von der Sinnlosigkeit des Lebens, sondern
nur von der Sinnlosigkeit des Leidens die Rede (vgl. GM II 7, KSA 5, 304, 3-5).
Nur das Leiden braucht ein „Dazu" (411, 19) - und ein solches „Dazu" habe
bisher eben ausschließlich das asketische Ideal geboten.
Man könnte angesichts des milden Tones versucht sein zu sagen, der Spre-
cher habe in GM III 28 jegliche Rancune gegen die Askese an sich abgelegt und
agitiere jetzt nur noch dagegen, das asketische Ideal als Zweck, als Sinn abso-
lut zu setzen. Vielmehr könnte Askese ein Mittel zu einem höheren Zweck
sein - womöglich sogar ein notwendiges Mittel. Worin dieser Zweck bestehen
mag - was die Sinnlosigkeit des Leidens aufzuheben vermöchte, bleibt offen.
Klar ist nur: Auch hier handelt es sich um einen gemachten, einen gesetzten
Zweck, eine Fiktion - so wie die Kunst (oder auch die Religion). Natürlicher-
weise hat das Leiden keinen Zweck, keinen Sinn.
Bei der Lektüre des Schlussabschnitts von GM fällt auf, wie nachdrücklich
behauptet wird, es gebe zur Sinngebung des Leidens durch das asketische Ide-
al bislang keine Alternative. Hat denn nicht die ganze Dritte Abhandlung im-
mer wieder Alternativen aufgezeigt, etwa jene der Starken, dem Leiden einen
alternativen Sinn zu verleihen? Die Behauptung, es habe nur eine entsprechen-
de Sinnstiftung gegeben und die Verweigerung im Schlusskapitel, eine positive
Alternative zu benennen, ist auf Provokation angelegt, auf Herausforderung
der Leser: Sie sollen gegen diese Behauptung, nach drei Abhandlungen langer
Schulung, ihr entschiedenes „Nein" formulieren: Doch es gibt Alternativen,
es gibt den Sinn des Leidens durch die Kunst beispielsweise oder durch die
Philosophie, und vor allem: die Bejahung des Lebens! Das Ende von GM ver-
weigert selbst hingegen eine Sinnantwort, es treten (im Unterschied zur Aus-
sicht in JGB) keine Philosophen der Zukunft auf, die sich als Gesetz- und Sinn-
geber gerieren. GM III 28 entlässt die Leser in eine Leere, die sie nun selbst
gestalten müssen.
Zu einer „Verdoppelung des Willens zum Nichts" in GM III 28 siehe Brusotti
2001, 118 f., zur Suizidalität im Blick auf GM III 28 Loeb 2008.
411, 12-16 Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Thier:
aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern dass die Antwort fehlte
für den Schrei der Frage „wozu leiden?"] Bernard Williams fragt in seinem Auf-
 
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