Chemische Reizwirkung und Giftwirkung.
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damit der Erregungszustand, der sich unter der Wirkung des stärkeren
Reizes ausbildet, merklich verschieden von dem Zustande wird, der
unter der beliebig langen Wirkung des schwächeren Reizes erreicht
wird.
Die beiden Erregungszustände, die verglichen werden, stellen also
Zustände dar, die nach beliebig langer, d. h. theoretisch gesprochen
nach unendlich langer Zeit erreicht werden; sie sind Gleichgewichts-
zustände.
Fig. 1. Verhältnis von
Empfindungsstärke und
Wirkungsstärke bei ver-
schiedenen Reizgrößen
nach H. H. Meyer.
Abszisse: Reizgrößen in
willkürlichen Einheiten.
-Empfindungsstärke.
--Wirkungsstärke.
Die Zeiten gleichen Geschehens aber, die
verglichen werden, wenn wir die Wirkungs-
zeiten von Giften vergleichen, bedeuten keine
Gleichgewichtszustände, keine stationären
Zu stände, wie sie sich nach unendlich
langer Zeit einstellen.
Wenn wir für sie nach einer Analogie
im Bereich der Lehre von den Reizwirkungen
suchen, so können wir sie unmöglich in den
Erscheinungen finden, die näherungsweise durch
das WEBER-FECHNERsche ,Gesetz* oder strenger
durch das von mir abgeleitete Gesetz der Unter-
schiedsschwellex) erfaßt werden. Dagegen be-
steht völlige Übereinstimmung — nicht nur
Analogie — zwischen dem Kreise von Er-
scheinungen, der näherungsweise durch die
Reizmengenregel oder strenger durch das von mir entwickelte Gesetz
der Nullschwelle* 2) erfaßt wird.
Das Problem ist ja in formaler Hinsicht identisch! In der Lehre
von den Reizwirkungen lautet die Frage: nach welcher Zeit wird bei
verschiedenen Reizstärken die Konzentration der Erregungs Stoffe
(R-Stoffe) erreicht, die hinreichend ist, um die Schwellenreaktion aus-
zulösen? Für die Theorie der Giftwirkungen lautet die Frage: nach
welcher Zeit wird bei verschiedenen Giftkonzentrationen an einer be-
stimmten Stelle des Organismus die Konzentration des wirksamen
Stoffes erreicht, die eine eben merkliche Giftwirkung zur Folge hat?
Stellen H. H. Meyers Betrachtungen nur eine ganz allgemeine
Überlegung dar, so versucht Wo. Ostwald3) die gesetzmäßige Beziehung
zwischen „Giftigkeit“ und Konzentration des Giftes quantitativ durch
q Pflüg. Arcb. Bd. 171, S. 230—261. 1918.
2) Pflüg. Arcb. Bd. 171, S. 215—229. 1918.
3) Kolloid-Zeitschrift Bd. 6, S. 297—307. 1910.
2*
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damit der Erregungszustand, der sich unter der Wirkung des stärkeren
Reizes ausbildet, merklich verschieden von dem Zustande wird, der
unter der beliebig langen Wirkung des schwächeren Reizes erreicht
wird.
Die beiden Erregungszustände, die verglichen werden, stellen also
Zustände dar, die nach beliebig langer, d. h. theoretisch gesprochen
nach unendlich langer Zeit erreicht werden; sie sind Gleichgewichts-
zustände.
Fig. 1. Verhältnis von
Empfindungsstärke und
Wirkungsstärke bei ver-
schiedenen Reizgrößen
nach H. H. Meyer.
Abszisse: Reizgrößen in
willkürlichen Einheiten.
-Empfindungsstärke.
--Wirkungsstärke.
Die Zeiten gleichen Geschehens aber, die
verglichen werden, wenn wir die Wirkungs-
zeiten von Giften vergleichen, bedeuten keine
Gleichgewichtszustände, keine stationären
Zu stände, wie sie sich nach unendlich
langer Zeit einstellen.
Wenn wir für sie nach einer Analogie
im Bereich der Lehre von den Reizwirkungen
suchen, so können wir sie unmöglich in den
Erscheinungen finden, die näherungsweise durch
das WEBER-FECHNERsche ,Gesetz* oder strenger
durch das von mir abgeleitete Gesetz der Unter-
schiedsschwellex) erfaßt werden. Dagegen be-
steht völlige Übereinstimmung — nicht nur
Analogie — zwischen dem Kreise von Er-
scheinungen, der näherungsweise durch die
Reizmengenregel oder strenger durch das von mir entwickelte Gesetz
der Nullschwelle* 2) erfaßt wird.
Das Problem ist ja in formaler Hinsicht identisch! In der Lehre
von den Reizwirkungen lautet die Frage: nach welcher Zeit wird bei
verschiedenen Reizstärken die Konzentration der Erregungs Stoffe
(R-Stoffe) erreicht, die hinreichend ist, um die Schwellenreaktion aus-
zulösen? Für die Theorie der Giftwirkungen lautet die Frage: nach
welcher Zeit wird bei verschiedenen Giftkonzentrationen an einer be-
stimmten Stelle des Organismus die Konzentration des wirksamen
Stoffes erreicht, die eine eben merkliche Giftwirkung zur Folge hat?
Stellen H. H. Meyers Betrachtungen nur eine ganz allgemeine
Überlegung dar, so versucht Wo. Ostwald3) die gesetzmäßige Beziehung
zwischen „Giftigkeit“ und Konzentration des Giftes quantitativ durch
q Pflüg. Arcb. Bd. 171, S. 230—261. 1918.
2) Pflüg. Arcb. Bd. 171, S. 215—229. 1918.
3) Kolloid-Zeitschrift Bd. 6, S. 297—307. 1910.
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