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Goldschmidt, Victor; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Abteilung A, Mathematisch-physikalische Wissenschaften (1921, 12. Abhandlung): Über Complikation und Displikation — Heidelberg: Winter, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.56266#0014
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14 Victor Goldschmidt :
Beispiele: So hat sich die einfach harmonische Musik
aus unregelmäßig gemischten Tönen roher Vorfahren herausgebildet.
Ein Kind, dem man eine Geige in die Hand gibt, oder das man
ans Klavier setzt, bringt wirre Töne, wenig rhythmisch, hervor und
hat seine Freude daran. Erst die eingehendere Beschäftigung mit
dem Instrument, Entwicklung und Erziehung, bringen ihm die Vor-
liebe für einfache Rhythmen, für reine und harmonische Töne, in
denen sich das einfache Prinzip der musikalischen Veranlagung von
Ohr und Sinn klar herausarbeitet. Hier, wie in jeder Eigenschaft,
durchläuft das Kind rasch den historischen Entwicklungsgang seiner
Ahnen.
Das einfache Prinzip unserer Buchstabenschrift, jedem cha-
rakteristischen Sprachlaut ein Zeichen zu geben, dringt allmählich
durch, und bald wird es kein Volk mehr geben, das anders schreibt.
Aber nirgends ist Schrift nach diesem Prinzip entstanden. Überall
hat sie sich aus einem Gewirr gleichzeitiger und wechselnder An-
läufe, aus einem Gemisch von Begriffs-, Silben- und Lautzeichen
abgeklärt, indem sie unbewußt der Entfaltung ihres einfachen Prin-
zips zustrebte, das heute bei uns jedes Kind lernt und nach dem
es seine eigenen Schriften erfindet.
Wir finden den altertümlich komplizierten Zustand der Schrift
in den Hieroglyphen und Keilschriften. Aber auch in der Schrift
der Japaner, dieses hochgebildeten modernen Volkes, finden wir
ein Gemisch chinesischer Zeichen von teils begrifflicher, teils pho-
netischer Bedeutung mit Silbenzeichen. Ein Zeichen für viele Laute,
einen Laut ausgedrückt durch vielerlei Zeichen, einen solch kom-
plizierten Bau der Schrift, daß zum Lesen einer japanischen Zeitung
die Kenntnis von mehreren Tausend Zeichen nötig ist; zum Lesen
der alten und neuen Drucke und Handschriften noch viel mehr,
während das einfache Prinzip, dessen Entfaltung auch diese Schrift
in ihrer Entwicklung zustrebt, mit etwa 20 Zeichen auskommt.
Wir finden in der Natur nebeneinander 2 Arten der Ent-
wicklung:
1. Vermehrung der Mannigfaltigkeit durch Complikation und
2. Verminderung der Mannigfaltigkeit (Vereinfachung) durch Vor-
drängen weniger Prinzipien und Abfallen der übrigen.
Nach beiden Arten der Entwicklung, deren jede wär einen
Fortschritt nennen, schreitet unsere Kultur vorwärts, entstehen
und vergehen Völker und Tiergeschlechter, Wissenschaften, Reli-
gionen und Künste.
 
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