12 (B. 6)
H. BLUNTSCHLi:
dazu bei, diesen Irrtum zu bannen, einem tieferen Streben in
Hinsicht auf die Bestimmung als Arzt die Bahn zu brechen. Alle
Warnungen vor dem Zu drang zum Medizinstudium schätze ich
als erheblich aussichtsloser ein, als eine bewußte Änderung in der
Erziehungsmethode, die schon an der Wurzel des Medizinstudiums
einsetzen muß. Und diese Wurzel, die Hauptwurzel des Baumes
der ärztlichen Wissenschaft und Kunst, sehe ich in der Betrach-
tungsweise der menschlichen Organisation. Der gute Arzt hat
immer den ganzen Menschen im Auge zu halten, sowohl die phy-
sische als die psychische Sphäre voll zu berücksichtigen und wenn
er einen kranken Teil des Körpers zu behandeln hat, darf er nicht
nur auf diesen achten, sondern muß dauernd die ganze Persön-
lichkeit, der er als Helfer naht, vor sich sehen. Der gute Arzt
muß ein wirklicher Menschenkenner und ein richtiger auf alles
achtender Naturforscher sein. Er muß aber auch noch ein anderes
in sich tragen, die selbstlose Opferfreudigkeit und Hingabe des
Helfers und Erziehers. Töricht wäre es, die sehr große Bedeutung
des ärztlichen Wissens zu unterschätzen, aber mit dem ange-
lernten Wissen allein wird keiner ein richtiger Arzt, vor allem dann
nicht, wenn dieses Wissen bloß aus aneinander gereihten Einzel-
heiten besteht und nicht zu harmonischer Gesamterfahrung ver-
arbeiteter Gehalt ist. Gewiß sollte noch eine Anlage, das Bewußt-
sein innerer Bestimmung zum ärztlichen Berufe hinzutreten. Daß
dem heute bei einem erheblichen Teil unserer Studierenden nicht
so ist, wird kein Kundiger bestreiten. Daraus jedoch den Schluß
zu ziehen, daß man eben zum Arzt unbedingt geboren sein müsse,
halte ich für falsch und für den Ausfluß jener Denkart, die an dem
tiefsten Erfolg wahrer Erziehungskunst, nämlich dem Vermögen
auch den inneren Menschen von Grund auf bilden und gestalten
zu können, von vorneherein verzweifelt. Solche Betrachtungsweise
unterschätzt die Freiheit und die Macht des Willens im Menschen
und sieht in ihm mehr oder minder nur das Produkt der Ver-
gangenheit, der Vererbung. Ich habe selbst vor Zeiten dieser
Anschauungsweise gehuldigt, aber die Erfahrung hat mich eines
anderen belehrt. Sie hat mir gezeigt, daß nur von außen zuge-
tragenes Wissen, reine belehrende Aufklärung in der Tat die
Menschen in der Regel nicht tiefer umbildet, daß es aber noch eine
größere und verheißungsvollere Aufgabe der Erziehungskunst gibt,
jene die nicht in erster Linie belehren, sondern schlummernde Kräfte
wecken will, jene die das Tatsächliche nicht vor dem Lernenden
H. BLUNTSCHLi:
dazu bei, diesen Irrtum zu bannen, einem tieferen Streben in
Hinsicht auf die Bestimmung als Arzt die Bahn zu brechen. Alle
Warnungen vor dem Zu drang zum Medizinstudium schätze ich
als erheblich aussichtsloser ein, als eine bewußte Änderung in der
Erziehungsmethode, die schon an der Wurzel des Medizinstudiums
einsetzen muß. Und diese Wurzel, die Hauptwurzel des Baumes
der ärztlichen Wissenschaft und Kunst, sehe ich in der Betrach-
tungsweise der menschlichen Organisation. Der gute Arzt hat
immer den ganzen Menschen im Auge zu halten, sowohl die phy-
sische als die psychische Sphäre voll zu berücksichtigen und wenn
er einen kranken Teil des Körpers zu behandeln hat, darf er nicht
nur auf diesen achten, sondern muß dauernd die ganze Persön-
lichkeit, der er als Helfer naht, vor sich sehen. Der gute Arzt
muß ein wirklicher Menschenkenner und ein richtiger auf alles
achtender Naturforscher sein. Er muß aber auch noch ein anderes
in sich tragen, die selbstlose Opferfreudigkeit und Hingabe des
Helfers und Erziehers. Töricht wäre es, die sehr große Bedeutung
des ärztlichen Wissens zu unterschätzen, aber mit dem ange-
lernten Wissen allein wird keiner ein richtiger Arzt, vor allem dann
nicht, wenn dieses Wissen bloß aus aneinander gereihten Einzel-
heiten besteht und nicht zu harmonischer Gesamterfahrung ver-
arbeiteter Gehalt ist. Gewiß sollte noch eine Anlage, das Bewußt-
sein innerer Bestimmung zum ärztlichen Berufe hinzutreten. Daß
dem heute bei einem erheblichen Teil unserer Studierenden nicht
so ist, wird kein Kundiger bestreiten. Daraus jedoch den Schluß
zu ziehen, daß man eben zum Arzt unbedingt geboren sein müsse,
halte ich für falsch und für den Ausfluß jener Denkart, die an dem
tiefsten Erfolg wahrer Erziehungskunst, nämlich dem Vermögen
auch den inneren Menschen von Grund auf bilden und gestalten
zu können, von vorneherein verzweifelt. Solche Betrachtungsweise
unterschätzt die Freiheit und die Macht des Willens im Menschen
und sieht in ihm mehr oder minder nur das Produkt der Ver-
gangenheit, der Vererbung. Ich habe selbst vor Zeiten dieser
Anschauungsweise gehuldigt, aber die Erfahrung hat mich eines
anderen belehrt. Sie hat mir gezeigt, daß nur von außen zuge-
tragenes Wissen, reine belehrende Aufklärung in der Tat die
Menschen in der Regel nicht tiefer umbildet, daß es aber noch eine
größere und verheißungsvollere Aufgabe der Erziehungskunst gibt,
jene die nicht in erster Linie belehren, sondern schlummernde Kräfte
wecken will, jene die das Tatsächliche nicht vor dem Lernenden