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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1910, 14. Abhandlung): Über Gleichheit und Identität — Heidelberg, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.32160#0009
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Über Gleicliheit micl Identität.

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die Entscheidung darüber ist nicht mehr logischen, sondern
lediglich methodologischen Charakters. In der demographischen
Statistik werdcrp worauf ich schon früher aufmerksam
machte 24), eine Menge Fälle (von Verhrechen, von Selbstmorden,
von Heiraten usw.) als „gleich“ registriert, die schließlich nur
an einem polizeilichen Merkmal gleich sind, im übrigen aber
die bedeutsamsten Verschiedenheiten ihrer sachlichen Merk-
male aufweisen. Es wäre daher nicht richtig, wollte man etwa
meinen, das Gleichheitsurteil bezöge sich auf die „Selbigkeit“
der wesentlichen Merkmale, unbekümmert um die Verschieden-
heiten des Unwesentlichen. Wenigstens gilt das nicht, wenn
man wesentlich und unwesentlich als sachlich eindeutige Be-
stimmungen ansieht. Vielmehr ist es bei der Vergleichung
jedesmal der Gesichtspunkt der Reflexion, der darüber ient-
scheidet, was fiir sie wesentlich oder unwesentlich sein soll.
Genau so ist es ja auch beim Zählen, das die Gleichheit der
Objekte voraussetzt. Jedes Kind lernt, daß es nur Gleich-
benanntes zusammenzählen darf: 3 Äpfel und 4 Birnen sollen
ni'cht addiert werden, aber als Früchte machen sie doch zu-
sammen 7 aus.

Aus dieser Verschiedenheit des Gleichen folgt weiterhin die
Forderung größter Vorsicht, die bei allen Argumentationen ein-
gehalten werden sollte, welche aus der Gleichheit irgendwelcher
Gegenstände andere Gleichheiten an ihnen oder für sie de-
duzieren wollen. Eine solche Ableit.ung ist immer nur beweis-
kräftig, wenn gezeigt werden kann, daß der Reflexionsgesichts-
punkt, unter dem die erste Gleichsetzung gilt, auch für die
zweite maßgebend bleibt: ist da.s nicht der Fall, so schwebt die
ganze Beweisführung in der Luft. Eine große Zalil politischer
und sozialer Theorien allerlei Tendenz leidet an diesem Grund-
fehler, daß aus der obenhin behaupteten „natürlichen Gleich-
heit“ der Menschen ohne weiteres Gleichheiten ihrer Rechte
oder ihrer Aufgaben und Pflichten abgeleitet werden sollen.
Derartige Argumentationen würden immer nur dann stichhaltig
sein, wenn mit voller Sicherheit nachgewiesen werden könnte,
daß die Gleichheiten, die verlangt werden, in unmittelbarem'
oder mittelbarem Zusammenhange mit denjenigen Gleichheiten

24) In der eingangs erwälmlen Festschrifi, p. 52.
 
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