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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1910, 14. Abhandlung): Über Gleichheit und Identität — Heidelberg, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.32160#0019
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Über Glcichheit und Identität.

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glauben, sobald uns irgendein Gegenstand in kontinuierlicher
Wahrnehmung gegeben ist. Das beweist, worauf es in der
konstitutiven Ivategorie der Identität wesentlich ankommt: auf
die Beziehung einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen auf ein
und dieselbe beharrende Wirklichkeit. Dies ist das zeitliche,
in der kantischen Bedeutung „sinnliche“ Moment, das in jeder
konstitutiven Kategorie (im Unterschiede von den reflexiven)
steckt. Die beharrende Realität macht das wesentliche an der
Identität aus, im Gegensatze einerseits zu der Mannigfaltig-
keit der darauf bezogenen Vorstellungen und andererseits
objektiv zu der Mannigfaltigkeit der mit, dem Identischen im zeit-
lichen Wechsel verbundenen Nebenbestimmungen. Die Ver-
schiedenheit der Vorstellungen kann dabei entweder (und diesen
einfachsten und elementaren Fall nahmen die obigen Beispiele
ins Auge) nur in den wiederholten Vorstellungsakten gleichen
Inhalts bestehen, oder sie kann auch in den Vorstellungsinhalten,
entsprechend den gegenständlichen Veränderungen des Iden-
tischen, vorliegen. In dieser Hinsicht erweist sich die Annahme
der Identität von der Begründung durch Gleichheit, die nur
einen Spezialfall bildet, unabhängig, und das Maß dessen, was
in verschiedenen Vorstellungen gleich sein muß, urn mit der
Annahme ihrer gegenständlichen Identität vereinbar zu bleiben,
ist außerordentlich verschieden und nicht formal eindeutig be-
stimmbar, sondern methodologisch festzustellen.

In unsrer Auffassung der physischen Wirklichkeit hängt
die Identität bald am Stoff, bald an der Form. Ein Stück
Wachs bleibt dasselbe, so verschieden die Formen sein mögen,
in die ich es knete: die Identität wird durch die zusammen-
hängende Masse der Materie gebildet. In andern Fällen kann
die Materie wechseln, wenn nur die Form dieselbe bleibt. Das
alte Beispiel des heraklitischen Flusses, der derselbe bleibt,
weil stets ebensoviel Wasser zufließt wie abfließt, ist schon
der einfachste Fall dieser Identität der Form bei kontinuier-
licher und deshalb unmerklicher Veränderung der Materie. Noch
mehr ist diese Kontinuierlichkeit und Unmerklichkeit des Aus-
tausches in dem „Schiff des Theseus“ entscheidend 46), an dem
im Laufe der Jahrhunderte Stiick für Stück bei der R.eparatur

. 46) Ein von Leibniz gern herangezogenes Beispiel : Epistola ad Wagne-
rum, Erdm., p. 466. Nouv. Ess. //, 27, 4. E., p. 278. Vgl. 0. Liebmann,
Gedanken und Tatsachen /, 237.

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