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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1910, 14. Abhandlung): Über Gleichheit und Identität — Heidelberg, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.32160#0018
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18

Wilhelm Windelband:

So weit ist schon das alltägliche Leben davon entfernt,
Gleichheit und Identität miteinander zu verwechseln: am
besten aber wird ihre Verschiedenheit durch die Möglichkeit
wissenschaftlicher Theorien wie des modernen Atomismus 42)
verdeutlicht. Ihm gelten sämtliche Atome desselben Stoffs, und
prinzipiell zuletzt sämtliche Atome des von der Hypothese
vorausgesetzten Urstoffs als völlig gleich: zwei Atome sind des-
halb lediglich durch die Örter verschieden, die sie einnehmen,
und durch die daraus sich ergebenden Verschiedenheiten der
Beziehung zu andern Atomen. Aber der Ort ist kein konstantes
Merkmal des Atoms und ist als stetig wechselnd keine seiner
dauernden Eigenschaften. Ein Atom Sauerstoff bleibt ganz das-
selbe, ob es im Bach zu Tal stürzt oder im Teiche ruht, ob
es im Dunste aufsteigt oder sonst in der Luft umtreibt, 'ob
es im Atem eingesogen oder im Blute dem organischen Gliede
zugeführt wird: und es ist in jeder dieser Lagen durch jedes
beliebige andere zu ersetzen! D. h. die Atome unterscheiden
sich voneinander lediglich durch ein Merkmal, das für ihr
Wesen das allergleichgültigste und zufälligste ist. Hierin steckt
in der Tat eine ernste begriffliche Schwierigkeit für den Ato-
mismus, und Leibniz hat nicht verfehlt, darauf überall da 43)
aufmerksam zu machen, wo er den Vorzug seiner Monadologie
an dem Principium identitatis indiscernibilium 44) deutlich
machen und die Erforderlichkeit einer inneren und wesent-
lichen Verschiedenheit der ,.Substanzen“ dartun wollte. Diese
theoretischen Gegensätze hat Kant in der „Amphibolie der
Reflexionsbegriffe“ mit großer kritischer Deutlichkeit ausein-
andergelegt. 45)

Kehren wir aber zu den Annahmen der Identität zurück,
die der empirische Verstandesgebrauch aufweist, so ist es wohl
zweifellos, daß wir dazu aller jener vermittelnden Schlüsse
aus unserm sonstigen Erleben und Wissen nicht zu bedürfen

42) Der antike Atomismus kommt hier nicht in Betracht ; denn seine
drofTOi soliten zvvar qualitativ gleich (in der einzigen Eigenschaft der Raum-
erfüllung oder Undurchdringlichkeit), aber quantitativ ungleich, von ver-
schiedener Gestalt und Größe sein.

43) Leibniz, Nouv. Ess. II. 27, 3. Erdm., 277. Briefe an Clarke 5,
24. E., p. 765.

44) Briefe an Clarke 4, 5. E., p. 755 f. Ygl. Monadologie, § 9. E.,
p. 705.

45) Kritik d. r. Vern., A. 271 f. u. 281 f£. W. W. IV, 175f. u. 181ff.
 
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