Über Gleichheit uncl Identität.
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emander m verschiedenen Lagen nnd räumlichen Verhältnissen
wahrnehmen. An der Gleichheit der Eindrücke allein hängt
also die Annahme der Identität niemals. Sie ist vielmehr eine
kategoriale Voraussetzungj die wir an die gedankliche Ver-
arbeitung der Eindrücke heranbringen. Deshalb liat Lieb-
mann 40) in einer sehr anschaulichen Darlegung dieser Verhält-
nisse die Identität unter die ,.Interpolationsmaximen der Er-
fahrung“ gerechnet. Die mehr oder minder sichere Anwendung
dieser Maxime hängt aber in ausgedehntem Maße von unserm
gesamten Weltvorstellen und Erfahrungswissen ab. Auch wenn
es richtig sein sollte, daß es in der (empirischen) Wirklich-
keit nicht zwei völlig und restlos gleiche Dinge oder Ereignisse
gibt (wie es Leibniz 41) gern hervorgehoben hat), so bringt
doch die begrenzte Unterscheidungsfähigkeit der Sinne eine
Menge subjektiv gleicher, d. h. ununterscheidbarer Eindrücke
zuwege, die deshalb Anlaß zu vielen Irrtümern in der Be-
hauptung der Identität sein müssen. Daher ist bei der Re-
kognition von Gegenständen, die zeitweilig unserer Wahr-
nehmung entzogen waren, die allergrößte Vorsicht erforderlich.
Ob ein Messer, das man uns vorlegt, identisch sei mit dem
unsrigen, das uns abhanden gekommen ist, wird nur bei ganz
besonderen Merkmalen mit einiger Wahrscheinlichkeit zu be-
urteilen sein. Wenn aber an der Taschenuhr, die ich darauf
prüfen soll, sich auf der Innenseite des Deckels in kleiner
Schrift genau dieselben drei mehrstelligen Ziffern zeigen, die
an meiner Uhr nach den Reparaturen eingraviert waren, so
werde ich mit voller Sicherheit die Identität behaupten. Allein
die enorme Unwahrscheinlichkeit, daß ich mich in diesem Falle
täuschen sollte, beruht nicht sowohl auf der Gleichheit der Ein-
drücke als vielmehr auf meiner Kenntnis der Usaticen und auf
den Überlegungen und Kausalschlüssen, die sich darauf ge-
gründet hahen. Diese Argumente würden in diesem Beispiel
sogar zur Behauptung der Identität führen, wenn etwa grobe
Veränderungen, die von mechanischen Stößen oder chemischen
Flecken herrührten, das äußere Bild des Gegenstandes wesent-
lich verschieden von dem meiner Erinnerung erscheinen iießen.
■ 10) 0. Liebmann, Die Klimax der Theorien (1884), VII.
41) Nouv. Ess. II, 27, 3. Erdm., p. 278 ; cf. Briefe an Clarke 4, 4.
E., p. 755.
Sitzungsberichte der Heidelb. Akademie, philos.-hist. Kl. 1910. 14. Abh.
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emander m verschiedenen Lagen nnd räumlichen Verhältnissen
wahrnehmen. An der Gleichheit der Eindrücke allein hängt
also die Annahme der Identität niemals. Sie ist vielmehr eine
kategoriale Voraussetzungj die wir an die gedankliche Ver-
arbeitung der Eindrücke heranbringen. Deshalb liat Lieb-
mann 40) in einer sehr anschaulichen Darlegung dieser Verhält-
nisse die Identität unter die ,.Interpolationsmaximen der Er-
fahrung“ gerechnet. Die mehr oder minder sichere Anwendung
dieser Maxime hängt aber in ausgedehntem Maße von unserm
gesamten Weltvorstellen und Erfahrungswissen ab. Auch wenn
es richtig sein sollte, daß es in der (empirischen) Wirklich-
keit nicht zwei völlig und restlos gleiche Dinge oder Ereignisse
gibt (wie es Leibniz 41) gern hervorgehoben hat), so bringt
doch die begrenzte Unterscheidungsfähigkeit der Sinne eine
Menge subjektiv gleicher, d. h. ununterscheidbarer Eindrücke
zuwege, die deshalb Anlaß zu vielen Irrtümern in der Be-
hauptung der Identität sein müssen. Daher ist bei der Re-
kognition von Gegenständen, die zeitweilig unserer Wahr-
nehmung entzogen waren, die allergrößte Vorsicht erforderlich.
Ob ein Messer, das man uns vorlegt, identisch sei mit dem
unsrigen, das uns abhanden gekommen ist, wird nur bei ganz
besonderen Merkmalen mit einiger Wahrscheinlichkeit zu be-
urteilen sein. Wenn aber an der Taschenuhr, die ich darauf
prüfen soll, sich auf der Innenseite des Deckels in kleiner
Schrift genau dieselben drei mehrstelligen Ziffern zeigen, die
an meiner Uhr nach den Reparaturen eingraviert waren, so
werde ich mit voller Sicherheit die Identität behaupten. Allein
die enorme Unwahrscheinlichkeit, daß ich mich in diesem Falle
täuschen sollte, beruht nicht sowohl auf der Gleichheit der Ein-
drücke als vielmehr auf meiner Kenntnis der Usaticen und auf
den Überlegungen und Kausalschlüssen, die sich darauf ge-
gründet hahen. Diese Argumente würden in diesem Beispiel
sogar zur Behauptung der Identität führen, wenn etwa grobe
Veränderungen, die von mechanischen Stößen oder chemischen
Flecken herrührten, das äußere Bild des Gegenstandes wesent-
lich verschieden von dem meiner Erinnerung erscheinen iießen.
■ 10) 0. Liebmann, Die Klimax der Theorien (1884), VII.
41) Nouv. Ess. II, 27, 3. Erdm., p. 278 ; cf. Briefe an Clarke 4, 4.
E., p. 755.
Sitzungsberichte der Heidelb. Akademie, philos.-hist. Kl. 1910. 14. Abh.
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