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E. I. Bekker.
weit über alles menschliche Verständnis hinaus. K.ann sein, daß
das unvermittelte Erschauen der Gi euel die Augen trüht, und uns
zu Schwarzsehern macht, gleichwohl dürfen wir die aufklärende
Wirkung nicht verkennen. Die Silhouetten von Zeitgenossen
treten schärfer, bei viefen freilich zugleich auch häßlicher hervor,
und alte Lehren, an deren Wahrheit und Heiligkeit die Massen schon
der Überlieferung wegen geglaubt, haben sich ais schnödes Biend-
werk erwiesen.
Beschränken wir uns auf Fragen, die das öffentliche Recht
berühren. Alter Streit über das Verhältnis von Verfassung und Ver-
waltung zueinander. Besonders groß war das Verlangen der Libe-
ralen nach Verfassung in der Periode zwischen den Freiheits-
kämpfen und dem Sturmjahr Achtundvierzig. Man redete freilich
mehr von Ständen als von Verfassung, eigentlich gemeint war doch
diese, dem auch die Ablehnung vom ,,Blatt. Papier^ entsprach.
Gegner behaupteten, auf die Verfassung komme doch nur wenig
an, das Entscheidende sei die Verwaltung, wiil sagen das Tun
und Treiben Derjenigen, welche die Verfassung ausüben, und den
Staat tatsächlich zu lenken berufen seien. Jetzt stehen uns drei
Großstaaten gegenüber, deren Verfassungen soweit auseinander
liegen wie nur möglich. In Rußland die strikt autokratische
Monarchie mit theokratischem Einschlage, in der aber der Eigen-
wille des poiitischen und religiösen Oberhauptes den Ausschlag
doch nur dann gibt, wenn dieser Zar ein Nikoiaus II. ist. Der
gegenwärtige Herrscher selbst eher friedlicher Natur, aber das
Regiment in Händen einer von höheren militärischen und reli-
giösen Würdenträgern gebildeten und von Großfürsten geleiteten
Clique, die aus mehr oder weniger eigennützigen Gründen darauf
bedacht ist, die räumliche Ausdehnung' und die geistige Ver-
knöcherung Rußlands miteinander zu verschmelzen. Diametral
entgegengesetzt Frankreich mit seiner erkünstelt demokratischen
Verfassung. Es hat bunte Schicksale in den vier Dezennien seines
Bestehens als Republik durchzumachen gehabt. Wiederholt sind
seine Präsidenten zum Gehorsam gegen die leitenden Staatsmänner
oder gar zum Rücktritt gezwungen worden; wogegen Herr Poincare
den Staat nach seinem Willen zu lenken versteht. Die letzten
Wahlen hatten ergeben, daß die Masse des französischen Volkes
das dritte Dienstjahr und den Krieg nicht wollte; aber der kräftigste
Vertreter dieses Volkswillens, Jaures, wird abgetan, und Viviani,
der eben noch ein Mandat wider das dritte Jahr angenommen
E. I. Bekker.
weit über alles menschliche Verständnis hinaus. K.ann sein, daß
das unvermittelte Erschauen der Gi euel die Augen trüht, und uns
zu Schwarzsehern macht, gleichwohl dürfen wir die aufklärende
Wirkung nicht verkennen. Die Silhouetten von Zeitgenossen
treten schärfer, bei viefen freilich zugleich auch häßlicher hervor,
und alte Lehren, an deren Wahrheit und Heiligkeit die Massen schon
der Überlieferung wegen geglaubt, haben sich ais schnödes Biend-
werk erwiesen.
Beschränken wir uns auf Fragen, die das öffentliche Recht
berühren. Alter Streit über das Verhältnis von Verfassung und Ver-
waltung zueinander. Besonders groß war das Verlangen der Libe-
ralen nach Verfassung in der Periode zwischen den Freiheits-
kämpfen und dem Sturmjahr Achtundvierzig. Man redete freilich
mehr von Ständen als von Verfassung, eigentlich gemeint war doch
diese, dem auch die Ablehnung vom ,,Blatt. Papier^ entsprach.
Gegner behaupteten, auf die Verfassung komme doch nur wenig
an, das Entscheidende sei die Verwaltung, wiil sagen das Tun
und Treiben Derjenigen, welche die Verfassung ausüben, und den
Staat tatsächlich zu lenken berufen seien. Jetzt stehen uns drei
Großstaaten gegenüber, deren Verfassungen soweit auseinander
liegen wie nur möglich. In Rußland die strikt autokratische
Monarchie mit theokratischem Einschlage, in der aber der Eigen-
wille des poiitischen und religiösen Oberhauptes den Ausschlag
doch nur dann gibt, wenn dieser Zar ein Nikoiaus II. ist. Der
gegenwärtige Herrscher selbst eher friedlicher Natur, aber das
Regiment in Händen einer von höheren militärischen und reli-
giösen Würdenträgern gebildeten und von Großfürsten geleiteten
Clique, die aus mehr oder weniger eigennützigen Gründen darauf
bedacht ist, die räumliche Ausdehnung' und die geistige Ver-
knöcherung Rußlands miteinander zu verschmelzen. Diametral
entgegengesetzt Frankreich mit seiner erkünstelt demokratischen
Verfassung. Es hat bunte Schicksale in den vier Dezennien seines
Bestehens als Republik durchzumachen gehabt. Wiederholt sind
seine Präsidenten zum Gehorsam gegen die leitenden Staatsmänner
oder gar zum Rücktritt gezwungen worden; wogegen Herr Poincare
den Staat nach seinem Willen zu lenken versteht. Die letzten
Wahlen hatten ergeben, daß die Masse des französischen Volkes
das dritte Dienstjahr und den Krieg nicht wollte; aber der kräftigste
Vertreter dieses Volkswillens, Jaures, wird abgetan, und Viviani,
der eben noch ein Mandat wider das dritte Jahr angenommen