ALFRED DüVE:
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Dient die Idee der Abstammung dem Volksbegriffe der Wan-
derzeit zur Basis, so kommen demselben neben diesem Haupt-
merkmale doch noch andere Attribute zu: die Völkerschaft erscheint
nach außen vor allen Dingen auch als selbständiger Körper, insbe-
sondere von politischer Natur. Sehen wir deshalb der regehnäßigen
Benennung auch wohl eine von aller Rücksicht auf die Blutsver-
wandtschaft freie Volksbezeichnung von mehr oder weniger ansge-
prägtem staatlichen Charakter substituiert, so geschieht das doch
im Griechischen unvergleichlich viel seltener, als im Lateinischen.
Der Grund dafür liegt auf der Hand; denn έ&νος hatte sich zwar
durch säkularen Gebrauch dem streng nationalen Sinne anbe-
quemt, daneben jedoch nie aufgehört, seinem eigentlichen Ursprung
zufolge eine gewohnheitsmäßig zusammengehönge Volksmenge
zu bedeuten, wie sie denn wieder vornehmlich in der politischen
Welt zu erscheinen pflegt. Es bezeichnet also als Name für die
Völkerschaft schon an und für sich, wenn man so sagen darf: die
politische Nationalgestalt und verbindet gewissermaßen die Züge
der gens mit denen des populus. Dem Gehalt des letzteren Wortes
allein entspricht nun im Griechischen genau ziemlich das alte
λ^ός oder λεώς, und eben dies verwendet denn auch Prokop in
lehrreichcr Weise im Hinhlick auf die Völkerschaften. Aof der
einen Seite ist ihm λκός die aus der Vereinigung verscliiedener
Nationalitäten hervorgegangene Staatsbevölkerung: er läßt im
Merovingerreich Franken und Arborycher, d. h. die keltoromani-
schen Bewohner Nordgalliens, εΐς ένκ λκόν ξυνελΕόντκς zu
großer Macht heranwachsen. Auf der anderen überträgt er doch
wieder ohne Umstände, wiewohl spärlich genug, den gleichen
Ausdruck auf die einzelne Völkerschaft selbst; und zwar ist ihm
ό τών ΓότΕων λεώς vorzugsweise das Gotenvolk in seiner reisigen
Verfassung, wofür andernorts selrr natürlich auch geradezu die
Benennung als 'Heer' — ό τών Βκνόίλων στρκτός u. dergl. — ein-
tritt. Denn auf der Kulturstufe der έ&νη sind Staats- und Heeres-
ordnung so ziemhch dasselbe; die Völkerschaft der Wanderzeit
hat außer Gepidarum auch Venetharum u. Aestorum natio, aber ausnahmsios
Gothorum gens (s. MoMMSEN, Jord. ind. IV p. 193) und es ließe sich auch
bei ihm die Wahl des ersteren Wortes in jedem einzelnen Falle zwanglos
als aus diesem oder jenem Grunde dem besonderen Sinn der Stelle angemessen
dartun. Beruht doch die gegenseitige Stehvertretung teilweise synonymer
Ausdrücke überhaupt nicht auf Mißhandlung, sondern auf gelinder Biegung
des Gedankens um des Lautes wihen.
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Dient die Idee der Abstammung dem Volksbegriffe der Wan-
derzeit zur Basis, so kommen demselben neben diesem Haupt-
merkmale doch noch andere Attribute zu: die Völkerschaft erscheint
nach außen vor allen Dingen auch als selbständiger Körper, insbe-
sondere von politischer Natur. Sehen wir deshalb der regehnäßigen
Benennung auch wohl eine von aller Rücksicht auf die Blutsver-
wandtschaft freie Volksbezeichnung von mehr oder weniger ansge-
prägtem staatlichen Charakter substituiert, so geschieht das doch
im Griechischen unvergleichlich viel seltener, als im Lateinischen.
Der Grund dafür liegt auf der Hand; denn έ&νος hatte sich zwar
durch säkularen Gebrauch dem streng nationalen Sinne anbe-
quemt, daneben jedoch nie aufgehört, seinem eigentlichen Ursprung
zufolge eine gewohnheitsmäßig zusammengehönge Volksmenge
zu bedeuten, wie sie denn wieder vornehmlich in der politischen
Welt zu erscheinen pflegt. Es bezeichnet also als Name für die
Völkerschaft schon an und für sich, wenn man so sagen darf: die
politische Nationalgestalt und verbindet gewissermaßen die Züge
der gens mit denen des populus. Dem Gehalt des letzteren Wortes
allein entspricht nun im Griechischen genau ziemlich das alte
λ^ός oder λεώς, und eben dies verwendet denn auch Prokop in
lehrreichcr Weise im Hinhlick auf die Völkerschaften. Aof der
einen Seite ist ihm λκός die aus der Vereinigung verscliiedener
Nationalitäten hervorgegangene Staatsbevölkerung: er läßt im
Merovingerreich Franken und Arborycher, d. h. die keltoromani-
schen Bewohner Nordgalliens, εΐς ένκ λκόν ξυνελΕόντκς zu
großer Macht heranwachsen. Auf der anderen überträgt er doch
wieder ohne Umstände, wiewohl spärlich genug, den gleichen
Ausdruck auf die einzelne Völkerschaft selbst; und zwar ist ihm
ό τών ΓότΕων λεώς vorzugsweise das Gotenvolk in seiner reisigen
Verfassung, wofür andernorts selrr natürlich auch geradezu die
Benennung als 'Heer' — ό τών Βκνόίλων στρκτός u. dergl. — ein-
tritt. Denn auf der Kulturstufe der έ&νη sind Staats- und Heeres-
ordnung so ziemhch dasselbe; die Völkerschaft der Wanderzeit
hat außer Gepidarum auch Venetharum u. Aestorum natio, aber ausnahmsios
Gothorum gens (s. MoMMSEN, Jord. ind. IV p. 193) und es ließe sich auch
bei ihm die Wahl des ersteren Wortes in jedem einzelnen Falle zwanglos
als aus diesem oder jenem Grunde dem besonderen Sinn der Stelle angemessen
dartun. Beruht doch die gegenseitige Stehvertretung teilweise synonymer
Ausdrücke überhaupt nicht auf Mißhandlung, sondern auf gelinder Biegung
des Gedankens um des Lautes wihen.