Metadaten

Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0023
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Studien zur Spätscholastik. I.

23

Solange der neugewählte Papst Urban VI. in seiner Würde
nicht bestritten wurde, trug niemand in Paris Bedenken, sich um
seine Gnadenbeweise zu bemühen. Bereits im April, noch ehe ihr
der Vollzug der Papstwahl bekannt war, hatte die Universität
einen Rotulus zusammengestellt; Gerhard von Calkar wurde zum
Gesandten der alemannischen Nation gewählt1. Aber obgleich die
Nuntien schon im Juni abreisten2, kamen sie zu spät. Noch vor
ihrer Ankunft hatten sich die französischen Kardinäle, erbittert
durch Urbans brutales Auftreten gegen die Macht ihres Kollegiums
und andere politische Ungeschicklichkeiten, nach Anagni begeben
und brüteten dort über Plänen zu seinem Sturze. Die große Kirchen-
spaltung bereitete sich vor.
Aus diesem Augenblicke höchster Spannung besitzen wir ein
Schreiben des Marsilius, datiert aus Tivoli, den 27. Juli3, an die
Universität und an alle ihre Nuntien gerichtet. Es atmet größte
Aufregung, ja fast Verzweiflung. In hundert Jahren war die Kirche
Gottes nicht in solcher Gefahr des Schismas, wie heute; möchte
Gott das Unheil abwenden! Der Papst hat heil, aber sorgen-
bedrängt und nur von vier italienischen Kardinälen begleitet, hier
in Tivoli Residenz genommen. Des Marsilius eigene Verbindung
mit dem päpstlichen Hofe scheint nicht allzu eng zu sein, denn er
weiß nicht, daß drei der Herren bereits am Tage vorher nach
Anagni abgereist waren. Er hat nur gehört, daß die 13 abgefal-
lenen Kardinäle in Anagni dunkle Pläne schmieden und ihre
italienischen Kollegen von Tivoli zu sich berufen haben. Auch
daß der Abfall bereits seit einigen Tagen beschlossene Sache und
schon am 15. Juli ein Bote aus Anagni zur Pariser Universität
abgegangen war4, ist ihm nicht bekannt. Er gibt in der Haupt-
sache nur Gerüchte wieder: ganz Italien und das Römervolk soll
Urban als den rechtmäßigen Papst anerkennen; in Anagni da-
gegen soll man eine Neuwahl planen, da die Wahl Urbans nicht in
Freiheit erfolgt sei. Es ist aber nichts Bestimmtes darüber zu
erfahren, und doch wäre Klarheit so dringend nötig! Jetzt hat die
Königin von Sizilien (Johanna von Anjou, die spätere Feindin
1 April 17: Auct. I, 538 — 9. Der rotulus sollte gerichtet sein ad papam
eligendum. Auch G. v G. wurde die Betreibung des gravamen super examine
S. Genovejae aufgetragen.
2 Am 12. VI. war G. v. G. noch in Paris, Auct. I, 557 — 9.
3 Chart. III, nr. 1608, p. 553 — 5
4 Lindner, I 88; Chart. III, nr. 1607; Valois I, 96, 101.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften