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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0074
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Gerhard Ritter:

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abtun wird. Supposita und quaesitum der quaestio werden nach-
einander erörtert. Am Schlüsse, an der Stelle, wo bei Thomas
meist vollständigere Gegenargumente einsetzen, wird nur kurz,
gleichsam den Inhalt des folgenden Hauptteils im voraus zusammen-
fassend, die Opposition gegen die soeben ausgesprochenen Beja-
hungen bzw. Verneinungen von supposita und quaesitum mit je
einem Satze erhoben. Kann sich der Autor dabei auf seine Vorlage
berufen (im Sentenzenkommentar auf den Magister, in der Physik
auf den Aristoteles), so genügt meistens dessen Zitierung ohne
weitere Begründung. (In oppositum est Magister bzw. philosophus;
folgt Stellenzitat.) Für den modernen Leser, dem es auf die wirk-
lichen Ansichten des Autors ankommt, ist die Lektüre dieses ersten
Teiles in den meisten Fällen ganz unergiebig.
Deutlicher noch als bei Thomas hebt sich sodann der Haupt-
teil der Argumentation aus dem übrigen heraus, nachdrücklich ein-
geleitet durch eine Einteilung der Haupterörterung in Unterteile
(in hac questione erunt 3 — bzw. 4 usw. — articuli), die ihrerseits
meist, aber nicht immer, der anfangs vorgenommenen Zerlegung
der quaestio in supposita und quaesita entsprechen. Die Einleitungs-
formel, wie sie z. B. bei Gregor von Rimini sich findet: Respondeo
ad istas rationes usw. erinnert deutlich an die Argumentation des
in der Disputation „respondierenden“, d. h. die Hauptlast der
Erörterung tragenden Magisters. Jeder Artikel zerfällt häufig
wieder in partes, innerhalb deren die Erörterung von Lehrsatz zu
Lehrsatz (propositio, conclusio, ratio) fortschreitet. Jede Reihe von
Lehrsätzen wird gewöhnlich durch zahlreiche Vorbemerkungen
(notandum) vorbereitet, jeder einzelne Lehrsatz in der Form des
Syllogismus bewiesen (probatur, patet, demonstratur, intellegitur)
jede Prämisse und jeder Schluß auf seine Gültigkeit überprüft und
umständlich begründet (consequentia tenet, et major patet ... et
minor patet ....). Das wesentlich Neue aber gegenüber dem frü-
heren Darstellungsverfahren ist die Ausdehnung der dialektischen
Methode auf immer weitere Unterteile der Argumentation: nicht
nur die Hauptargumente, sondern jeder einzelne Lehrsatz, ja dessen
syllogistische Begründungssätze können durch Gegenüberstellung
konträrer Lehrmeinungen (in oppositum, contra arguitur) mit Be-
gründung (confirmatur) und deren Widerlegung (solutio) bewiesen
werden1. Nimmt man hinzu, daß die Lehrsätze gleichsam um-
1 Zuweilen (so lib. III, qu. 14, art. 1) entwickelt sich das ganze Schema
von rationes, oppositio, Hauptteil und solutio rationum sogar innerhalb der
 
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