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Gerhard Ritter:
drängt, als causa principalis, nicht die Fernwirkung des locus
naturalis1. Magnetismus und Schwerkraft sind nicht miteinander
verwandt — wie könnte sonst die Anfangsgeschwindigkeit des fal-
lenden Körpers auf alle Entfernungen vom Erdhoden die gleiche
sein ?
Das alles bedeutet keine sehr erhebliche Abweichung von Ari-
stoteles. Der wichtigste Fortschritt ist wohl die absolut eindeutige,
übrigens schon von Buridan und Albert festgelegte Erkenntnis,
daß die Annäherung an den locus naturalis in keiner Weise als
Ursache der Beschleunigung des Falles anzusehen sei. In der Er-
mittlung der wirklichen Ursache waren die Pariser Okkamisten
- in Fortsetzung einer mit W. Burley auf dämmernden glücklichen
Hypothese — ein gutes Stück vorangekommen. Im Gegensatz zu
den sehr unzulänglichen Theorien des Aristoteles, der alles aus
der Mitwirkung der umgebenden Luft erklären wollte, hatten sie
eine Art Schwungkraft (impetus) entdeckt, die dem fallenden,
ebenso wie dem geschleuderten Körper sich mitteile. In der Aus-
gestaltung dieser Entdeckung überschreitet Marsilius am weitesten
die Grenzen der aristotelischen Naturwissenschaft.
Die Anwendung der neuen Lehre zur Erklärung der Fall-
beschleunigung freilich geschieht nur ganz kurz: nicht der locus
naturalis, sondern die während des Falles entstandene Schwung-
kraft beschleunigt diese Bewegung2. Für die nähere Ausführung
verweist Marsilius auf die Abhandlung de celo et mundo; deren
Studium müßte denn auch ergeben, ob und wie weit etwa unser
Autor der kühnen Anwendung der Lehre vom impetus auf die
Theorie der Himmelskörper gefolgt ist, wie sie von Albert, Buridan
und Nikolaus von Oresme, später auch von dem Cusaner ausgebaut
1 abbrev. phys. Bl. 73, a: [Grave] non movetur effective deorsum a suo
loco naturali ipsum grave ad se trahente; patet, quod talis tractus esset fortior
prope locum naturalem quam distans ab eo. ... et per consequens idem grave
numero plus ponderaret super terram quam super turres beate Marie. (Das tradi-
tionelle Beispiel!) Grave motum deorsum naturaliter movetur immediate a sua
gravitate tanquam instrumento et sua forma substantiali tanquam principaliter
agente.
2 abbrev. phys. Bl. 73, a: Si petatur: si non ab tractione loci naturalis
[grave] sic movetur, unde tune movetur velocius versus finem? Respondetur quod
hoc est propter impetum acquisitum per motum, et post dicetur et forte niagis
habetur in primo celi. Hiernach wäre also die Abhandlung de celo et mundo
nach den abbrev. entstanden! — Die größere Physik schweigt nach Duhem III,
93 über den impetus beim Falle völlig!
Gerhard Ritter:
drängt, als causa principalis, nicht die Fernwirkung des locus
naturalis1. Magnetismus und Schwerkraft sind nicht miteinander
verwandt — wie könnte sonst die Anfangsgeschwindigkeit des fal-
lenden Körpers auf alle Entfernungen vom Erdhoden die gleiche
sein ?
Das alles bedeutet keine sehr erhebliche Abweichung von Ari-
stoteles. Der wichtigste Fortschritt ist wohl die absolut eindeutige,
übrigens schon von Buridan und Albert festgelegte Erkenntnis,
daß die Annäherung an den locus naturalis in keiner Weise als
Ursache der Beschleunigung des Falles anzusehen sei. In der Er-
mittlung der wirklichen Ursache waren die Pariser Okkamisten
- in Fortsetzung einer mit W. Burley auf dämmernden glücklichen
Hypothese — ein gutes Stück vorangekommen. Im Gegensatz zu
den sehr unzulänglichen Theorien des Aristoteles, der alles aus
der Mitwirkung der umgebenden Luft erklären wollte, hatten sie
eine Art Schwungkraft (impetus) entdeckt, die dem fallenden,
ebenso wie dem geschleuderten Körper sich mitteile. In der Aus-
gestaltung dieser Entdeckung überschreitet Marsilius am weitesten
die Grenzen der aristotelischen Naturwissenschaft.
Die Anwendung der neuen Lehre zur Erklärung der Fall-
beschleunigung freilich geschieht nur ganz kurz: nicht der locus
naturalis, sondern die während des Falles entstandene Schwung-
kraft beschleunigt diese Bewegung2. Für die nähere Ausführung
verweist Marsilius auf die Abhandlung de celo et mundo; deren
Studium müßte denn auch ergeben, ob und wie weit etwa unser
Autor der kühnen Anwendung der Lehre vom impetus auf die
Theorie der Himmelskörper gefolgt ist, wie sie von Albert, Buridan
und Nikolaus von Oresme, später auch von dem Cusaner ausgebaut
1 abbrev. phys. Bl. 73, a: [Grave] non movetur effective deorsum a suo
loco naturali ipsum grave ad se trahente; patet, quod talis tractus esset fortior
prope locum naturalem quam distans ab eo. ... et per consequens idem grave
numero plus ponderaret super terram quam super turres beate Marie. (Das tradi-
tionelle Beispiel!) Grave motum deorsum naturaliter movetur immediate a sua
gravitate tanquam instrumento et sua forma substantiali tanquam principaliter
agente.
2 abbrev. phys. Bl. 73, a: Si petatur: si non ab tractione loci naturalis
[grave] sic movetur, unde tune movetur velocius versus finem? Respondetur quod
hoc est propter impetum acquisitum per motum, et post dicetur et forte niagis
habetur in primo celi. Hiernach wäre also die Abhandlung de celo et mundo
nach den abbrev. entstanden! — Die größere Physik schweigt nach Duhem III,
93 über den impetus beim Falle völlig!