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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0114
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114

Gerhard Ritter:

Sätze, insbesondere über Gott und die „ersten Ursachen“, im syllo-
gistischen Schlußverfahren sich ableiten lassen1. Diese „allgemein-
sten Prinzipien“ sind zugleich die Grundlage aller Einzelwissen-
schaften, die zwar nicht ohne weiteres aus ihnen ableitbar sind,
deren oberste Sätze indessen mit der Metaphysik im Einklang-
stehen müssen2. Nun ist aber die Erkenntnis dieser obersten Prin-
zipien das Höchste, was dem menschlichen Geiste überhaupt
erreichbar ist. Sie ist nicht jedem zugänglich; denn die Sinnlich-
keit steht dem reinen Erkennen im Wege, obwohl sie in anderer
Hinsicht die Quelle aller menschlichen Einsicht bildet. Aber aus
ihr entspringt auch der appetitus sensitims, den der Erkennende
restlos der reinen Vernunft unterworfen haben muß, wenn er zur
Erkenntnis Gottes und der causae separatae Vordringen will, soweit
diese überhaupt im „natürlichen Lichte“ erkennbar sind3. Diese
stark und wiederholt betonte Voraussetzung metaphysischer Er-
kenntnis erinnert lebhaft an die Erkenntnistheorie der älteren
Franziskanerschule, insbesondere Bonaventuras4; doch stellt unser
Autor die Definition der Weisheit, wie sie Bonaventura gibt, als
eine Mischung aus intellektueller und praktischer Erfassung Gottes,
ausdrücklich außerhalb der Diskussion5 — begreiflich, da die rein
weltliche Theorie des Aristoteles eine intuitive Erfahrung Gottes
im Sinne der Franziskaner natürlich nicht kannte. Die so be-
stimmte Erkenntnis stellt die höchste Stufe menschlichen Verhal-
tens überhaupt dar: sowohl nach dem Rang ihres Gegenstandes
wie nach der beglückenden Wirkung auf das Gemüt; nur die Theo-
logie ist ihr überlegen, die alle andern Wissenschaften als ihre
Dienerinnen voraussetzt, und zwar an Rang, an Gewißheit und an
affektiver Wirkung; doch kann sie nicht bestehen ohne das Wunder-
1 Bl. 2,b: Sapientia est cognitio scientifica procedens ex principiis com-
munissimis ad conclusiones speciales presertim de deo et de primis causis tales,.
ad quales non polest ascendere aliquis, nisi appetitus fuit perjecte subiectus recte
rationi. (1. I, qu. 1, a. 2.)
2 Bl. 1, d: Principia communissima, que considerat metaphysica . . . taute
sunt virtutis, quod omnium particularium scientiarum principia possunt declarare
et etiam negans aliquid eorum ad contradictorium ducere, ex dictis ipsius licet . . .
simpliciter probari non possint (ibidem a. 2).
3 Bl. l,d: Quamdiu appetitus sensitivus non est debile subiectus recte
rationi sive purgatus ab irrationalibus passionibus, principia, que ducunt ad
cognitionem per scientiam dei et causarum separatarum in lumine naturali
homini possibilem, homini sunt incognita.
4 Vgl. Seeberg, III2 334/5. 5 Bl. 2, a.
 
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