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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0115
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Studien zur Spätscholastik. T.

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geschenk des Glaubens1. Unter den rein natürlichen Wissens-
zweigen dagegen besitzt die Metaphysik außer dem höchsten Rang
in gewissem Sinne auch die höchste Gewißheit, insofern sie nämlich
die schlechthin ersten und allgemeinsten Prinzipien behandelt, den
am wenigsten veränderlichen Gegenstand des Wissens, nämlich
Gott und die ersten Ursachen zum Objekt hat und nicht nur das
Sein, sondern auch die Gründe des Seins erkennt2. Die Sicherheit
ihres Schlußverfahrens wird allerdings durch den mathematischen
Beweis übertroffen, und in dieser Hinsicht ist sie nicht frei von der
Möglichkeit des Irrtums: zwischen principia prima und conclu-
siones können sich Fehler einschleichen3. Und insofern sinnliche
Erfahrung Gewißheit gibt, ist die Metaphysik weniger sicher, als
jede der Sinnlichkeit näher stehende Wissensart; doch gebraucht
hier unser Autor „sicherer“ und „leichter“, d. h. der menschlichen
Erkenntnis leichter zugänglich, vollständig synonym4. Ein grund-
sätzlicher Zweifel an der Zuverlässigkeit metaphysischer Sätze soll
dadurch nicht begründet werden. Immerhin gibt es eine deutlich
bestimmbare Abstufung der Gewißheitsgrade für die verschiedenen
Arten der \Yissenschaft.
Erinnern wir uns desWahrheitsbegriffes, zu dem die Erkenntnis-
lehre des Marsilius hingeführt hatte (oben S. 62ff.). Alles Wissen
ist Ableitung aus obersten Prinzipien. Als solche treten auf die
„zufälligen“, in der Sinnlichkeit begründeten Wahrheiten der
bloßen Erfahrung (z. B. „alles Feuer ist warm“) auf der einen, die
notwendigen allgemeinen Urteile des abstrakten Denkens (z. B.
der Satz des Widerspruches) auf der andern Seite. Den höchsten
Gewißheitsgrad (summa evidentia) besitzen nur diese notwendigen
Urteile selbst; ihnen gegenüber kann das assensive Urteil niemals
irren5. Dabei ist es höchst interessant, wie unter den logischen
1 Bl. 2, d, concl. 4 bezw. Bl. 3, a, art. 4. 2 Bl. 4 ; 1.1, qu. 2, a. 1, concl. 1 — 2.
3 ibid. concl. 3 — 4. Berufung auf Aristoteles, anal. post. I. Skeptischer
klingt eine Stelle des Sentenzenwerkes (1. I, qu. 1, a. 2, Bl. 4, c): Juxta posse
conabor, ut persuadeantur [conclusiones] probabilioribus rationibus, quam eorum
contradictorie persuaderi possint, et hoc in materia metaphysicali debel sufficere;
nam certitudo mathematica non est ubilibet expetenda, ut habetur secundo meta-
physice.
4 ibid. co. 5: [Scientia experimentalis] modo [eius] certitudinis, que est
de sensibus, magis aliis dicitur certior, palet quod est facilior.
5 L. II, qu. 1, a. 2, co. 3, Bl. 13. c: Certitudo assensus ex parte summe
evidentie est homini possibilis, patet de primis principiis evidentibus in se, quod
nulla [proposilioj posita facere posset, ul assentiendo talibus principiis homo
erraret, prout assentiendo huic: ,,Quodlibet est vel non est“ usw.
 
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