Gerhard Ritter:
singulär oder universal sein, das Objekt ,,außerhalb der Seele“
immer nur singulär. Ist aber damit nicht der Weg versperrt zur
Erkenntnis des ,,Wesens“ der Dinge, das doch nach Aristoteles
eben in dem begrifflich Allgemeinen bestehen soll, das ihnen inne-
wohnt ? Ist damit nicht die Metaphysik unmöglich geworden ?
Es scheint nur so. Denn die abstraktive Tätigkeit des Verstan-
des, der die allgemeinen Begriffe hervorbringt, ist ja keine Willkür.
Sie beruht auf einer sachlichen „Ähnlichkeit“ der Einzeldinge, in
der sich ihr „Wesen“ ausdrückt1. Nicht das außermentale Einzel-
ding enthält das „Wesen“, das „Allgemeine“, aber sein psychischer
Stellvertreter, der conceptus oder terminus. Aus den unbestimmten
Einzelbegriffen abstrahiert der Intellekt das „Wesen“ des Dinges.
Wir erfassen die Substanz, d. h. das „Einzelding seinem Wesen
nach“ nicht sogleich als solches, sondern nur durch Vermittlung
der mannigfaltigen Akzidenzien; aber wir abstrahieren es aus der
Fülle der Bestimmungen heraus, die der unbestimmte Einzelbegriff
mit sich führt2. In diesem Zusammenhang ist gelegentlich von der
durch den Allgemeinbegriff „vertretenen“ Wesenheit des ein-
zelnen in einer Form die Rede, als wäre sie geradezu eine res3,
die durch Abstraktion erkannt wird. Marsilius verwahrt sich aus-
drücklich gegen das Mißverständnis, als ob die Allgemeinbegriffe
nur eine sprachlich-grammatische Bedeutung hätten: es handelt
sich in ihnen nicht um sprachliche, sondern um logische Suppo-
sitionen für die „Wesenheit“ der Einzeldinge1.
Jetzt erst wird völlig klar, warum der „bestimmte Einzel-
begriff“ als letztes und höchstes Produkt der inkomplexen Abstrak-
p. 54. Der Fortschritt dieser neueren Unterscheidung gegenüber der aristote-
lischen Lehre mit ihrer Vermischung des logischen und kausalen Grundes ist
nicht zu verkennen!
1 Vgl. das Zitat oben p. 60, Anm. 3 aus abbrev. phys.
2 Metaph. 1. VII, qu. 17 (Register nr. 65) a. 1, co. 5, Bl. lllv: Intellectus
noster est potentie talis abstractive, quod prospecta re conceptu singulari vago
potest abslrahere conceptum essentie istius rei communiter et similiter ab Omnibus
proprietatibus accidentahbus, que possunt sibi convenire. Istud apparet, quod
alias non possent in nobis produci ist.i conceptus, quibus correspondent termini
,,substantia, animal“ etc. Nam non videmus res (! ) per tales terrninos signifi-
catas, nisi per accidentia; non enim percipimus substantiam sub raeione sub-
stancie, sed per accidentia. Vgl auch Scheel I2, 188.
3 Vgl. die vorige Anm. Ferner: 1. II, qu. 21 (Reg. nr. 69), a. 1, prop. 1,
Bl. 116, b: Termini communes . . . vere sunt species et genera.
4 lib. VII, qu. 17, a. 1, not. 4, BI. 111 V
singulär oder universal sein, das Objekt ,,außerhalb der Seele“
immer nur singulär. Ist aber damit nicht der Weg versperrt zur
Erkenntnis des ,,Wesens“ der Dinge, das doch nach Aristoteles
eben in dem begrifflich Allgemeinen bestehen soll, das ihnen inne-
wohnt ? Ist damit nicht die Metaphysik unmöglich geworden ?
Es scheint nur so. Denn die abstraktive Tätigkeit des Verstan-
des, der die allgemeinen Begriffe hervorbringt, ist ja keine Willkür.
Sie beruht auf einer sachlichen „Ähnlichkeit“ der Einzeldinge, in
der sich ihr „Wesen“ ausdrückt1. Nicht das außermentale Einzel-
ding enthält das „Wesen“, das „Allgemeine“, aber sein psychischer
Stellvertreter, der conceptus oder terminus. Aus den unbestimmten
Einzelbegriffen abstrahiert der Intellekt das „Wesen“ des Dinges.
Wir erfassen die Substanz, d. h. das „Einzelding seinem Wesen
nach“ nicht sogleich als solches, sondern nur durch Vermittlung
der mannigfaltigen Akzidenzien; aber wir abstrahieren es aus der
Fülle der Bestimmungen heraus, die der unbestimmte Einzelbegriff
mit sich führt2. In diesem Zusammenhang ist gelegentlich von der
durch den Allgemeinbegriff „vertretenen“ Wesenheit des ein-
zelnen in einer Form die Rede, als wäre sie geradezu eine res3,
die durch Abstraktion erkannt wird. Marsilius verwahrt sich aus-
drücklich gegen das Mißverständnis, als ob die Allgemeinbegriffe
nur eine sprachlich-grammatische Bedeutung hätten: es handelt
sich in ihnen nicht um sprachliche, sondern um logische Suppo-
sitionen für die „Wesenheit“ der Einzeldinge1.
Jetzt erst wird völlig klar, warum der „bestimmte Einzel-
begriff“ als letztes und höchstes Produkt der inkomplexen Abstrak-
p. 54. Der Fortschritt dieser neueren Unterscheidung gegenüber der aristote-
lischen Lehre mit ihrer Vermischung des logischen und kausalen Grundes ist
nicht zu verkennen!
1 Vgl. das Zitat oben p. 60, Anm. 3 aus abbrev. phys.
2 Metaph. 1. VII, qu. 17 (Register nr. 65) a. 1, co. 5, Bl. lllv: Intellectus
noster est potentie talis abstractive, quod prospecta re conceptu singulari vago
potest abslrahere conceptum essentie istius rei communiter et similiter ab Omnibus
proprietatibus accidentahbus, que possunt sibi convenire. Istud apparet, quod
alias non possent in nobis produci ist.i conceptus, quibus correspondent termini
,,substantia, animal“ etc. Nam non videmus res (! ) per tales terrninos signifi-
catas, nisi per accidentia; non enim percipimus substantiam sub raeione sub-
stancie, sed per accidentia. Vgl auch Scheel I2, 188.
3 Vgl. die vorige Anm. Ferner: 1. II, qu. 21 (Reg. nr. 69), a. 1, prop. 1,
Bl. 116, b: Termini communes . . . vere sunt species et genera.
4 lib. VII, qu. 17, a. 1, not. 4, BI. 111 V