Studien zur Spätscholastik. I.
119
tion dargestellt wurde (s. o. S.59). Aristoteles hatte in „eigentüm-
lich schillernder Doppelhedeutung“1 des Substanzbegriffes das
„Wesentliche“ bald in der Gattung erblickt, an der das Einzelding
Anteil nimmt, bald in dem Einzelnen selber, sofern es seinen akzi-
dentellen Bestimmungen gegenüber als das Allgemeine erscheint.
Beiden Bedeutungen wurde die Schultheorie des Marsilius gerecht.
In den Gattungsbegriffen abstrahiert der Verstand das Allgemeine
aus den Einzelerscheinungen, in den bestimmten Einzelbegriffen
{conceptus determinati singuläres), in denen alles bloß Akzidentelle
durch Abstraktion überwunden ist, erfaßt er das Einzelding in
seiner Wesenheit, als prima substaniia2.
Somit ist alles deutlich. Der Allgemeinbegriff und der „be-
stimmte“ Einzelbegriff sind als Produkte der verstandesmäßigen
Abstraktion keine willkürlichen Fiktionen. Beide haben ihre sach-
liche Beziehung zu den außermentalen Einzeldingen: jener erfaßt
ihre allgemeine, dieser ihre individuelle „Wesenheit“. Sie gewinnen
die Möglichkeit dazu vermöge der wesentlichen Bedeutsamkeit der
die Einzeldinge in der Seele „vertretenden“ unbestimmten Einzel-
begriffe, in denen Wesentliches und Unwesentliches ungeschieden
nebeneinander liegt, nicht durch eine direkte Einwirkung außer-
mentaler allgemeiner Wesenheiten auf das erkennende Bewußt-
sein. Die erkenntnistheoretische Absicht dieser Unterscheidung
leuchtet ein: der Erkenntnisvorgang wird nicht mehr passiv, sondern
aktiv geschildert. Der Intellekt nimmt das Allgemeine nicht mehr
aus den äußeren Dingen gleichsam entgegen, sondern er erarbeitet
es selbsttätig durch Abstraktion aus der Fülle der ihm vermittels
der Wahrnehmung zuströmenden unbestimmten Einzelbegriffe3.
Das war unaristotelisch. Aber man begreift, daß die Vertreter
1 Windelband, Lehrbuch4, 118.
2 lib. VII, qu. 17, a. 2, Bl. 111 v, prob. 3: Per abstractionem intellectus
polest a conveniencia concepluum sive generali sive speciali trahere conceptum
generalem . . . a conveniencia individuali . . . conceptum essentialem et singulärem.
— ibid. prob. 1: Duplex est conceptus singularis, scilicet determinatus et con-
ceptus singularis vagus, et quid caperet [commentator] per conceptum singulärem
determinatum nisi conceptum essentialem? Quando scilicet accidentia convocat
rer um, videtur dici vagus. Ferner 1. II, qu. 21 (Reg. nr. 69), a. 2, supp. 3,
Bl. 116 V Conceptus singuläres determinati . . . correspondent prime substantie
■supponentes in mente pro substancia simplici sine alicuius extrinseci convo-
cacione.
3 Diesen Gegensatz betont M. v. I. selbst: 1. VII, qu. 16 (Reg. nr, 64)
a. 2, co. 3, Bl. 109, b.
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tion dargestellt wurde (s. o. S.59). Aristoteles hatte in „eigentüm-
lich schillernder Doppelhedeutung“1 des Substanzbegriffes das
„Wesentliche“ bald in der Gattung erblickt, an der das Einzelding
Anteil nimmt, bald in dem Einzelnen selber, sofern es seinen akzi-
dentellen Bestimmungen gegenüber als das Allgemeine erscheint.
Beiden Bedeutungen wurde die Schultheorie des Marsilius gerecht.
In den Gattungsbegriffen abstrahiert der Verstand das Allgemeine
aus den Einzelerscheinungen, in den bestimmten Einzelbegriffen
{conceptus determinati singuläres), in denen alles bloß Akzidentelle
durch Abstraktion überwunden ist, erfaßt er das Einzelding in
seiner Wesenheit, als prima substaniia2.
Somit ist alles deutlich. Der Allgemeinbegriff und der „be-
stimmte“ Einzelbegriff sind als Produkte der verstandesmäßigen
Abstraktion keine willkürlichen Fiktionen. Beide haben ihre sach-
liche Beziehung zu den außermentalen Einzeldingen: jener erfaßt
ihre allgemeine, dieser ihre individuelle „Wesenheit“. Sie gewinnen
die Möglichkeit dazu vermöge der wesentlichen Bedeutsamkeit der
die Einzeldinge in der Seele „vertretenden“ unbestimmten Einzel-
begriffe, in denen Wesentliches und Unwesentliches ungeschieden
nebeneinander liegt, nicht durch eine direkte Einwirkung außer-
mentaler allgemeiner Wesenheiten auf das erkennende Bewußt-
sein. Die erkenntnistheoretische Absicht dieser Unterscheidung
leuchtet ein: der Erkenntnisvorgang wird nicht mehr passiv, sondern
aktiv geschildert. Der Intellekt nimmt das Allgemeine nicht mehr
aus den äußeren Dingen gleichsam entgegen, sondern er erarbeitet
es selbsttätig durch Abstraktion aus der Fülle der ihm vermittels
der Wahrnehmung zuströmenden unbestimmten Einzelbegriffe3.
Das war unaristotelisch. Aber man begreift, daß die Vertreter
1 Windelband, Lehrbuch4, 118.
2 lib. VII, qu. 17, a. 2, Bl. 111 v, prob. 3: Per abstractionem intellectus
polest a conveniencia concepluum sive generali sive speciali trahere conceptum
generalem . . . a conveniencia individuali . . . conceptum essentialem et singulärem.
— ibid. prob. 1: Duplex est conceptus singularis, scilicet determinatus et con-
ceptus singularis vagus, et quid caperet [commentator] per conceptum singulärem
determinatum nisi conceptum essentialem? Quando scilicet accidentia convocat
rer um, videtur dici vagus. Ferner 1. II, qu. 21 (Reg. nr. 69), a. 2, supp. 3,
Bl. 116 V Conceptus singuläres determinati . . . correspondent prime substantie
■supponentes in mente pro substancia simplici sine alicuius extrinseci convo-
cacione.
3 Diesen Gegensatz betont M. v. I. selbst: 1. VII, qu. 16 (Reg. nr, 64)
a. 2, co. 3, Bl. 109, b.