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Gerhard Ritter:
maß diesen Urteilen eine sehr geringe Tragkraft bei. An dieser
Stelle setzte seine eigentliche Kritik ein. Unsere allgemeinen Urteile
über Gottes Dasein und Wesen sind nicht in strengem Sinne
beweisbar, da ihre metaphysischen Prämissen dem kritischen Zweifel
nicht standhalten. Schon die entscheidende Stelle der ganzen
Argumentation ist nicht über eine gewisse Wahrscheinlichkeit
hinaus zu befestigen: der Satz nämlich, daß es in der Reihe der
wirkenden Ursachen eine prima causa geben müsse, und daß diese
in Gott zu suchen sei. Rein rational läßt sich das Weltbild auch ohne
diese Anfangsursache konstruieren. Und wie hier, so zeigt sich an
fast allen Stellen der „natürlichen Theologie“, daß die meta-
physischen Voraussetzungen in Wahrheit nicht aus den „selbst-
evidenten“ Prinzipien des Denkens hervorgegangen sind.
An diesem Kernpunkt der ganzen Frage erweist sich nun
Marsilius wieder als konservativer gegenüber Aristoteles und der
theologischen Tradition des 13. Jahrhunderts. Es bedürfte gar
nicht der ausdrücklichen Berufung auf die Gottesbeweise des Duns
Skotus1, um uns das erkennen zu lassen. Die Notwendigkeit des
primus motor ist für ihn mit Hilfe der Physik, die der prima causa
in der Metaphysik rational erweisbar2. Ein streng mathematischer
Beweis ist freilich in metaphysischen Dingen überhaupt nicht
möglich; aber es genügt, daß sich die besseren Gründe für die
Begrenztheit der Kausalkette in einer prima causa aufbringen
lassen, als für das Gegenteil3. Sieht es hiernach so aus, als wäre
eben doch nur ein Wahrscheinlichkeitsbeweis möglich, so wird an
anderer Stelle nachdrücklich versichert, die Existenz der prima
causa efficiens et finalis und damit zahlreiche hievon abzuleitende
Aussagen über Gott und sein Verhältnis zu den abhängigen Dingen
seien „beweisbar“ (demonstrabiles)^.
1 lib. sent. I, qu. 5, a. 1, co. 3, Bl. 34, c.
2 Metaph. 1. II, qu. 4 (Reg. nr. 11),
3 L. XII, qu. 13, a. 1, not. 5, Bl. 178, c: Licet non demonstrentur metaphy-
sice, tarnen satis probat ratio philosophi et magis id quam sui oppositum. Vgl.
auch ibid. a. 1. no. 1: Lumen naturale . . . est noticia . . . per se notorum
princip io rum prob ab iliorum quam suum oppositum . . . cum in meta-
physica non possint fieri demonstrationes mathematice (?) usw. — Dieselbe
Unterscheidung zwischen dem modus demonstrandi naturalis, metaphysicalis
(beides sind Rückschlüsse) und mathematicus (Ableitung aus allgemeinen Sätzen
von axiomatischer Geltung) s. 1. sent. I, qu. 42, a. 2, Bl. 176, c.
4 ibid. co. 4 (Bl. 178, d): In lumine naturali hec [propositio] est demon-
strabilis: Primum principium entium est prima causa finalis et prima causa
efficiens usw. — Die Lösung des scheinbaren Widerspruchs findet sich l.sent. I
Gerhard Ritter:
maß diesen Urteilen eine sehr geringe Tragkraft bei. An dieser
Stelle setzte seine eigentliche Kritik ein. Unsere allgemeinen Urteile
über Gottes Dasein und Wesen sind nicht in strengem Sinne
beweisbar, da ihre metaphysischen Prämissen dem kritischen Zweifel
nicht standhalten. Schon die entscheidende Stelle der ganzen
Argumentation ist nicht über eine gewisse Wahrscheinlichkeit
hinaus zu befestigen: der Satz nämlich, daß es in der Reihe der
wirkenden Ursachen eine prima causa geben müsse, und daß diese
in Gott zu suchen sei. Rein rational läßt sich das Weltbild auch ohne
diese Anfangsursache konstruieren. Und wie hier, so zeigt sich an
fast allen Stellen der „natürlichen Theologie“, daß die meta-
physischen Voraussetzungen in Wahrheit nicht aus den „selbst-
evidenten“ Prinzipien des Denkens hervorgegangen sind.
An diesem Kernpunkt der ganzen Frage erweist sich nun
Marsilius wieder als konservativer gegenüber Aristoteles und der
theologischen Tradition des 13. Jahrhunderts. Es bedürfte gar
nicht der ausdrücklichen Berufung auf die Gottesbeweise des Duns
Skotus1, um uns das erkennen zu lassen. Die Notwendigkeit des
primus motor ist für ihn mit Hilfe der Physik, die der prima causa
in der Metaphysik rational erweisbar2. Ein streng mathematischer
Beweis ist freilich in metaphysischen Dingen überhaupt nicht
möglich; aber es genügt, daß sich die besseren Gründe für die
Begrenztheit der Kausalkette in einer prima causa aufbringen
lassen, als für das Gegenteil3. Sieht es hiernach so aus, als wäre
eben doch nur ein Wahrscheinlichkeitsbeweis möglich, so wird an
anderer Stelle nachdrücklich versichert, die Existenz der prima
causa efficiens et finalis und damit zahlreiche hievon abzuleitende
Aussagen über Gott und sein Verhältnis zu den abhängigen Dingen
seien „beweisbar“ (demonstrabiles)^.
1 lib. sent. I, qu. 5, a. 1, co. 3, Bl. 34, c.
2 Metaph. 1. II, qu. 4 (Reg. nr. 11),
3 L. XII, qu. 13, a. 1, not. 5, Bl. 178, c: Licet non demonstrentur metaphy-
sice, tarnen satis probat ratio philosophi et magis id quam sui oppositum. Vgl.
auch ibid. a. 1. no. 1: Lumen naturale . . . est noticia . . . per se notorum
princip io rum prob ab iliorum quam suum oppositum . . . cum in meta-
physica non possint fieri demonstrationes mathematice (?) usw. — Dieselbe
Unterscheidung zwischen dem modus demonstrandi naturalis, metaphysicalis
(beides sind Rückschlüsse) und mathematicus (Ableitung aus allgemeinen Sätzen
von axiomatischer Geltung) s. 1. sent. I, qu. 42, a. 2, Bl. 176, c.
4 ibid. co. 4 (Bl. 178, d): In lumine naturali hec [propositio] est demon-
strabilis: Primum principium entium est prima causa finalis et prima causa
efficiens usw. — Die Lösung des scheinbaren Widerspruchs findet sich l.sent. I