Studien zur Spätscholastik. I.
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zelnen nicht leicht zu bestimmen. Das war auch in der älteren
Scholastik nicht viel anders. Uns interessiert darum wenig, welche
göttlichen Eigenschaften nun im besonderen Marsilius für beweisbar
hält, welche nicht, und wie er sie abzuleiten sucht1. Die Haupt-
sache ist bereits deutlich: die grundsätzlich skeptische Haltung
Okkams diesen Dingen gegenüber ist aufgegeben2. Glauben und
Wissen sollen wieder miteinander versöhnt werden; die zerstörte
aristotelische Brücke über den Abgrund wird neu zusammengeflickt.
Die Lösung der metaphysischen Kernfrage wird auf einer eigenen
Linie weit rechts von der nominalistischen Kritik gesucht. Hier
stoßen wir zum ersten Male auf die geistige Verwandtschaft unseres
Theologen mit dem Augustinergeneral Gregor von Rimini, der von
ähnlichen Voraussetzungen her —- der okkamistischen Erkenntnis-
theorie — ebenfalls ohne das kritische Bedürfnis Okkams an die
theologischen Gedankenmassen herantrat und in einem ganz ähn-
lichen Beweisverfahren zu fast denselben Schlüssen über die natür-
liche Erkennbarkeit Gottes gelangte3. Marsilius war nicht der
einzige Vermittlungstheologe der okkamistischen Schule.
Der Gesamteindruck eines halben Thomismus bestätigt sich
sogleich bei der näheren Betrachtung der Gottesidee. Hier kommt
vor allem das Verhältnis der göttlichen Ideen zur Kreatur in Frage
— dasjenige Problem also, in dessen Behandlung die Nachwirkung
der in Augustin lebenden neuplatonischen Motive am stärksten zur
Geltung kam. Im Grunde hatte Augustin einfach die platonische
Ideenlehre christlich umgebildet, indem er die „Urbilder“ der
kreatürlichen Dinge als raliones aeternae des Schöpfers erscheinen
1 S. besonderst I senk, qu. 42, a. 2; lib. sent. I, qu. 5, a. 1; lib. senk II,
qu. 1, a. 2. abbrev. phys. Bl. 79.
2 Es ist sehr bemerkenswert, daß nach Hermelink, Th. Fak. 111 auch
Biel eine Reihe von „natürlichen“ Urteilen über Gottes Dasein und Wesen
gelten läßt. Warum das „zu keinem weiteren Ziel führen“ soll, unterläßt H.
zu erklären. Im übrigen ist die Behauptung, daß Okkam einen quidditativen,
aber nicht einen connotativen Begriff Gottes anerkannt habe (!), ebenso
rätselhaft wie die Erklärung von ,,connotatio“ und ,,qualitas“ (1. c. anm. 1).
Ygl. damit Okkam 1. sent. I, dist. 3, qu. 2, TI! Eine Erklärung der Scholastik
ohne zureichend exakte Kenntnis ihrer logischen Terminologie ist aussichtslos.
Im übrigen, scheint mir, ist noch vieles zu tun, bis die deutschen „Okkamisten“
gehörig von der Lehre ihres Meisters unterschieden sind.
3 In prim. sent. dist. 3, qu.4, Bl. 49 des Druckes Venedig 1503. (Berliner
Staatsbibi.) Über den Weg, auf dem Gregor aus der nominalistischen Er-
kenntnistheorie zur Metaphysik zu gelangen suchte, vgl. oben p. 63, N. 1.
Eine genauere Untersuchung würde sehr lohnen.
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., philos.-hist. Kl. 1921. 4. Abh.
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zelnen nicht leicht zu bestimmen. Das war auch in der älteren
Scholastik nicht viel anders. Uns interessiert darum wenig, welche
göttlichen Eigenschaften nun im besonderen Marsilius für beweisbar
hält, welche nicht, und wie er sie abzuleiten sucht1. Die Haupt-
sache ist bereits deutlich: die grundsätzlich skeptische Haltung
Okkams diesen Dingen gegenüber ist aufgegeben2. Glauben und
Wissen sollen wieder miteinander versöhnt werden; die zerstörte
aristotelische Brücke über den Abgrund wird neu zusammengeflickt.
Die Lösung der metaphysischen Kernfrage wird auf einer eigenen
Linie weit rechts von der nominalistischen Kritik gesucht. Hier
stoßen wir zum ersten Male auf die geistige Verwandtschaft unseres
Theologen mit dem Augustinergeneral Gregor von Rimini, der von
ähnlichen Voraussetzungen her —- der okkamistischen Erkenntnis-
theorie — ebenfalls ohne das kritische Bedürfnis Okkams an die
theologischen Gedankenmassen herantrat und in einem ganz ähn-
lichen Beweisverfahren zu fast denselben Schlüssen über die natür-
liche Erkennbarkeit Gottes gelangte3. Marsilius war nicht der
einzige Vermittlungstheologe der okkamistischen Schule.
Der Gesamteindruck eines halben Thomismus bestätigt sich
sogleich bei der näheren Betrachtung der Gottesidee. Hier kommt
vor allem das Verhältnis der göttlichen Ideen zur Kreatur in Frage
— dasjenige Problem also, in dessen Behandlung die Nachwirkung
der in Augustin lebenden neuplatonischen Motive am stärksten zur
Geltung kam. Im Grunde hatte Augustin einfach die platonische
Ideenlehre christlich umgebildet, indem er die „Urbilder“ der
kreatürlichen Dinge als raliones aeternae des Schöpfers erscheinen
1 S. besonderst I senk, qu. 42, a. 2; lib. sent. I, qu. 5, a. 1; lib. senk II,
qu. 1, a. 2. abbrev. phys. Bl. 79.
2 Es ist sehr bemerkenswert, daß nach Hermelink, Th. Fak. 111 auch
Biel eine Reihe von „natürlichen“ Urteilen über Gottes Dasein und Wesen
gelten läßt. Warum das „zu keinem weiteren Ziel führen“ soll, unterläßt H.
zu erklären. Im übrigen ist die Behauptung, daß Okkam einen quidditativen,
aber nicht einen connotativen Begriff Gottes anerkannt habe (!), ebenso
rätselhaft wie die Erklärung von ,,connotatio“ und ,,qualitas“ (1. c. anm. 1).
Ygl. damit Okkam 1. sent. I, dist. 3, qu. 2, TI! Eine Erklärung der Scholastik
ohne zureichend exakte Kenntnis ihrer logischen Terminologie ist aussichtslos.
Im übrigen, scheint mir, ist noch vieles zu tun, bis die deutschen „Okkamisten“
gehörig von der Lehre ihres Meisters unterschieden sind.
3 In prim. sent. dist. 3, qu.4, Bl. 49 des Druckes Venedig 1503. (Berliner
Staatsbibi.) Über den Weg, auf dem Gregor aus der nominalistischen Er-
kenntnistheorie zur Metaphysik zu gelangen suchte, vgl. oben p. 63, N. 1.
Eine genauere Untersuchung würde sehr lohnen.
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., philos.-hist. Kl. 1921. 4. Abh.
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