Studien zur Spätscholastik. I.
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Mannigfaltigkeit1. Es ist durchaus irrig, auf Grund dieser und
anderer Übereinstimmungen mit Thomas den Marsilius einfach
als Thomisten abzustempeln, wie es die ältere (katholische) Dar-
stellung von Stöckl tut2; viel näher liegt der Vergleich mit der
Augustiner-Eremitenschule (Thomas von Straßburg)3, der uns noch
öfter beschäftigen wird. Und ganz unsinnig ist die Behauptung
„pantheistischer Konsequenzen“4. Aber freilich zeigt sich an diesem
Punkte in besonders interessanter Weise, wie die innere Neigung
dieses deutschen ,,Okkamisten“ nach metaphysischer Hyposta-
sierung der Begriffe hinüberdrängt.
Die zentrale Bedeutung der Gottesvorstellung erweist sich am
deutlichsten in der Mannigfaltigkeit ihrer Problematik. Ist Gott
als eine Substanz zu denken, oder ist er wie über alle Kategorien,
so auch über die der Substanz erhaben ? Wenn er Substanz ist, wird
er dann wie andere Substanzen durch Akzidenzien bestimmt, oder
widerspricht das der Einfachheit und Unbegrenztheit seines
Wesens? Gehört er einer Gattung an, so daß ein und derselbe
Begriff in gleicher Weise von ihm und den geschöpfliehen Dingen
prädiziert werden kann ? In der Untersuchung dieser heiklen
Fragen wehrte sich die kirchliche Scholastik gegen eine panthei-
stische Gleichsetzung des persönlichen Gottes mit dem allgemein-
sten „Sein“ auf der einen und gegen seine unterschiedslose Ver-
mischung mit den geschöpflichen Substanzen auf der anderen
Seite. Aus der ausführlichen Argumentation des Marsilius, die
1 Art. 1, pars 1, co. 1, prob. 3, Bl. 2: Essentia divina vere et propria
sst idea omnium producibilium. — Ibid. pars 2, co. 1: Nulle Idee sunt in deo
distincte intrinsece et realiter sive formaliter. - Co. 2: In deo sunt infinite idee
extrinsece et obiectivaliler.
2 II, 1050ff. Damit fällt auch die in Anm. 2 aus Tennemanns Geschichte
der Philosophie 8, II, p. 909 übernommene Ansicht hin, die übliche Be-
zeichnung des M. v. I. als Okkamist beruhe auf einer Verwechslung mit
Marsilius von Padua.
3 Stöckl II, 1048.
4 Hermelink, Th. Fak. 107. Ebendort wird die Ideenlehre in der Fas-
sung Biel-Okkams als „verwandt der Mystik im engeren Sinne“ hingestellt.
Das dürfte viel eher auf die Gegenpartei, etwa auf die Richtung Bonaventuras
zutreffen, als auf die von Grund auf nüchterne, unspekulative Theologie
gerade Okkams. Auch ist es mißverständlich (p. 111), daß die „aristotelische
Scholastik bis auf Duns Skotus den Übergang vom unterschiedslosen einfachen
Sein Gottes zu den Einzeldingen durch eine Stufenfolge vom Allgemeinen
zum Besonderen vermittelt“ habe. Einen solchen Neuplatonismus hätte z.B.
Thomas abgelehnt.
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Mannigfaltigkeit1. Es ist durchaus irrig, auf Grund dieser und
anderer Übereinstimmungen mit Thomas den Marsilius einfach
als Thomisten abzustempeln, wie es die ältere (katholische) Dar-
stellung von Stöckl tut2; viel näher liegt der Vergleich mit der
Augustiner-Eremitenschule (Thomas von Straßburg)3, der uns noch
öfter beschäftigen wird. Und ganz unsinnig ist die Behauptung
„pantheistischer Konsequenzen“4. Aber freilich zeigt sich an diesem
Punkte in besonders interessanter Weise, wie die innere Neigung
dieses deutschen ,,Okkamisten“ nach metaphysischer Hyposta-
sierung der Begriffe hinüberdrängt.
Die zentrale Bedeutung der Gottesvorstellung erweist sich am
deutlichsten in der Mannigfaltigkeit ihrer Problematik. Ist Gott
als eine Substanz zu denken, oder ist er wie über alle Kategorien,
so auch über die der Substanz erhaben ? Wenn er Substanz ist, wird
er dann wie andere Substanzen durch Akzidenzien bestimmt, oder
widerspricht das der Einfachheit und Unbegrenztheit seines
Wesens? Gehört er einer Gattung an, so daß ein und derselbe
Begriff in gleicher Weise von ihm und den geschöpfliehen Dingen
prädiziert werden kann ? In der Untersuchung dieser heiklen
Fragen wehrte sich die kirchliche Scholastik gegen eine panthei-
stische Gleichsetzung des persönlichen Gottes mit dem allgemein-
sten „Sein“ auf der einen und gegen seine unterschiedslose Ver-
mischung mit den geschöpflichen Substanzen auf der anderen
Seite. Aus der ausführlichen Argumentation des Marsilius, die
1 Art. 1, pars 1, co. 1, prob. 3, Bl. 2: Essentia divina vere et propria
sst idea omnium producibilium. — Ibid. pars 2, co. 1: Nulle Idee sunt in deo
distincte intrinsece et realiter sive formaliter. - Co. 2: In deo sunt infinite idee
extrinsece et obiectivaliler.
2 II, 1050ff. Damit fällt auch die in Anm. 2 aus Tennemanns Geschichte
der Philosophie 8, II, p. 909 übernommene Ansicht hin, die übliche Be-
zeichnung des M. v. I. als Okkamist beruhe auf einer Verwechslung mit
Marsilius von Padua.
3 Stöckl II, 1048.
4 Hermelink, Th. Fak. 107. Ebendort wird die Ideenlehre in der Fas-
sung Biel-Okkams als „verwandt der Mystik im engeren Sinne“ hingestellt.
Das dürfte viel eher auf die Gegenpartei, etwa auf die Richtung Bonaventuras
zutreffen, als auf die von Grund auf nüchterne, unspekulative Theologie
gerade Okkams. Auch ist es mißverständlich (p. 111), daß die „aristotelische
Scholastik bis auf Duns Skotus den Übergang vom unterschiedslosen einfachen
Sein Gottes zu den Einzeldingen durch eine Stufenfolge vom Allgemeinen
zum Besonderen vermittelt“ habe. Einen solchen Neuplatonismus hätte z.B.
Thomas abgelehnt.