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Gerhard Ritter:

ergibt sich eine systematische Kombination der Glaubenswahr-
heiten (Dogmatik), wie sie dem gläubigen Laien denn doch fehlt.
Weiterhin lassen sich aus den offenbarten Prinzipien durch regel-
rechte Syllogistik Schlüsse ziehen, die in der Offenbarung selbst
nicht enthalten sind, z. B. daß die ,,Materie“ im philosophischen
Sinne durch das Wort Gottes geschaffen ist. Das sind „extensive“
Erweiterungen der Offenbarung, wenn sie auch gewiß keine Stei-
gerung der Glaubensgewißheit bedeuten1. Aber noch eine Unter-
scheidung (sie stammte von Duns Skotus)2 beleuchtet die wissen-
schaftliche Bedeutung der Theologie: diese läßt nämlich erkennen,
welche Glaubensartikel „notwendig“, d. h. in Gottes Wesen be-
gründet sind (wie die Trinität, die Jungfrauengeburt u. a.), und
welche andern als „kontingente“ Wahrheiten von Gottes freiem
Willen abhängen (wie das jüngste Gericht); es ist klar, daß jene
sich besser eignen, der Theologie wissenschaftlichen Charakter zu
verleihen, als diese3. Ist dieser Charakter auch nach allem Voraus-
gegangenen wesentlich supranatural, so befähigt er doch gerade
vermöge seiner Erhabenheit die Theologie dazu, alle andern Wissen-
schaften, ihre Dienerinnen, zu ergänzen — gleichsam dem wissen-
schaftlichen Weltbild den krönenden Abschluß zu geben. Doch
sind ihre Prinzipien streng von denen der Metaphysik zu scheiden:
nicht das Sein schlechthin, sondern Gottes Dasein ist die oberste
ihrer Prämissen; Gott als höchstes Gut die zweite; die Wahrheit
des ganzen Inhalts der göttlichen Offenbarung, die Aufzeichnung
dieser Offenbarung im Kanon der Schrift und den Glaubensartikeln
sind die weiteren Vordersätze des theologischen Schlußverfahrens,
ln ihrer Ordnung, Verarbeitung und Verteidigung besteht das
W esen der Theologie4.
Es ist nicht schwer zu erkennen, daß diese Ausführungen in
ihrer Gesamtheit eine Mischung von Elementen verschiedenartiger
Herkunft darstellen, wie sie ungefähr der communis opinio der nach-
thomistischen Scholastik entsprechen mochte. Von Okkam unter-
scheiden sie sich, abgesehen von dem Festhalten an einem Rudi-
mente „natürlicher Theologie“, mehr in der Gesamthaltung als in
den einzelnen Sätzen. Kirchlicher Positivismus, aristotelischer
Wissenschaftsbegriff, Betonung der biblischen Autorität und eine
gewisse rationalisierende Tendenz der Dogmatik finden sich auch
bei Okkam . Aber die letzte Absicht ist dort, das theologische Wissen
1 ibid. concl. 4 u. 6. 2 Seeberg, Duns Skotus 133.
3 lib. sent. 1. c. concl. 8, Bl. 18. 4 1. c. art. 3 finis, Bl. 18v —19.
 
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