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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0143
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Studien zur Spätscholastik. I.

14;

möglichst scharf vom natürlichen zu trennen und auf eigene Funda-
mente zu stellen. Marsilius entzieht sich dieser Zeitströmung nicht.
Aber er sucht auch hier wieder einen möglichst harmonischen Aus-
gleich zwischen Glauben und Wissen. Ihm fehlt der kritische
Grundtrieb des okkamistischen Denkens.
So schließt er sich denn auch in der Antwort auf die Frage:
ob die Theologie als eine praktische oder spekulative Disziplin zu
betrachten sei, gegen alle Überlieferung der neueren Theologie
ausdrücklich an Thomas von Aquino an. Die theologische Entwick-
lung drängte mit Macht auf eine innere Loslösung der Theologie
von der metaphysischen Spekulation. Die großen englischen Theo-
logen, Duns und Okkam, hatten ihre Aufgabe als eine wesentlich
praktische bestimmt, wenn auch Okkam daneben (stärker als Duns)
die Bedeutung einer vom wissenschaftlichen Denken getrennten
bzw. ihm entgegengesetzten religiösen Erkenntnis betont hatte.
Zweifellos kam diese veränderte Zielsetzung einem praktischen
religiösen Bedürfnis entgegen. Auch Gregor von Rimini, in dem
diese innerlichen Motive offenbar besonders lebendig waren, erklärte
die Theologie für eine wesentlich praktische Disziplin1. Daneben
zeigt aber die große Erscheinung der deutschen Mystik mitsamt
allen ihren Mitläufern, daß (auf deutschem Boden jedenfalls) die
neuen religiösen Triebkräfte auch gerade in einer verstärkten Speku-
lation, in einer wesentlich kontemplativen Haltung Befriedigung
finden konnten; nur daß freilich diese mystische Spekulation
gegenüber der älteren scholastisch-aristotelischen (unbeschadet
ihrer Abstammung von Thomas) durch Vereinfachung, platoni-
sierende Umgestaltung und Konzentration auf die innerlichsten
religiösen Probleme an Kraft und Lebendigkeit ungemein viel
gewonnen hatte. Die Stellung des Marsilius innerhalb dieser
großen Gegensätze der Zeit zu bestimmen, ist nicht leicht. Von
aller Mystik hält ihn die nüchterne, antiplatonische Tendenz seines
wissenschaftlichen Denkens weit entfernt; auch die Hyposta-
sierung der urbildlichen ,,Ideen“ als Realitäten im Geiste Gottes
(s. o. S. 130) war ja nicht im Sinne neuplatonischer Tendenzen,
sondern ausschließlich im Anschluß an Thomas und Augustin
gedacht. Thomistisch ist auch seine Begründung für den Satz,
das oberste Ziel sei die Erkenntnis Gottes, nicht die praktische
Anleitung des Menschen zur Seligkeit; die Theologie hat freilich.

1 In I. lib. sent., prol. qu. 5, a. 4, Bl. 23 v der zitierten Ausgabe.
 
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