Gerhard Ritter:
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auch praktische Aufgaben, aber sie sind den theoretischen unter-
geordnet1. Marsilius ist sich bewußt, damit im Widerspruch zu der
gesamten ,,modernen“ Tradition zu stehen2, und so ist man zu-
nächst geneigt, eine einfache Reaktion im Sinne des älteren Aristo-
telismus anzunehmen. Doch liegt die Gefahr eines Mißverständ-
nisses sehr nahe. Wir werden nämlich später sehen, daß unser
Theologe den wertvollsten Fortschritt der skotistischen Theologie
über den Intellektualismus des Thomas hinaus, die energische
Betonung des affektiven Charakters der religiösen Erkenntnis und
des religiösen Lebens überhaupt, den metaphysischen Primat des
Willens über den Intellekt, mit Kraft und Erfolg aufgenommen hat.
Hier dagegen ist nicht von dem letzten Ziel des religiösen Erkennens,
sondern von dem wissenschaftlichen Charakter des theologischen
Denkens die Rede3, und es fragt sich, ob Marsilius im Sinne Okkams
bereit ist, auf die Möglichkeit gesicherter, wissenschaftlicher, d. h.
metaphysischer Betrachtungen über den Inhalt des durch einen
religiösen Erkenntnisakt (den Glauben) erfaßten Vorstellungs-
kreises zu verzichten. Wird das Problem so gefaßt, dann kann die
Antwort nicht zweifelhaft sein! Der Metaphysiker Marsilius wird
es gar nicht lassen können, über Gott und die göttlichen Dinge auch
als Christ eine logisch begründete, d. h. eben theologische Er-
kenntnis zu suchen.
Diese höchst interessante Überwindung der die Zeit bewegen-
den Gegensätze begreift sich am einfachsten durch die Annahme
einer unmittelbaren Abhängigkeit von Augustin. Das darf jetzt
schon ausgesprochen werden, obgleich erst der weitere Verlauf
unserer Untersuchung diese Annahme bestätigen muß. Der Name
Augustins ist das Panier, unter dem beide Parteien fechten: die
Vorkämpfer des Willensprimats, wie die Theologen der kontem-
plativen Gottesbetrachtung. Es sind die inneren Widersprüche der
augustinischen Lehre selbst, die in ihrem Streite ausgetragen wer-
den: die starke Betonung der Willensseite des menschlichen Seelen-
lebens hatte den großen Kirchenlehrer doch nicht gehindert, als
1 lib. sent. I, qu. 3, a. 5, Bl. 27, c. 2 1. c. a. 1, Bl. 21, d.
3 Nur in diesem Zusammenhang darf die Stelle gewertet werden: Dilectw
Bei non est praxis sive actio . . . sed pars vite contemplative (1. c. art. 5, CO. 5,
Bl. 26, b), nämlich als Beweis gegen die Notwendigkeit, der Theologie den
theoretischen Charakter abzusprechen. Andernfalls entstünde ein Wider-
spruch gegen 1. II, qu. 22, a. 2, bes. solche Stellen wie: Dilectio [dei] est. actus
voluntatis. (Bl. 338, a, i. f.)
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auch praktische Aufgaben, aber sie sind den theoretischen unter-
geordnet1. Marsilius ist sich bewußt, damit im Widerspruch zu der
gesamten ,,modernen“ Tradition zu stehen2, und so ist man zu-
nächst geneigt, eine einfache Reaktion im Sinne des älteren Aristo-
telismus anzunehmen. Doch liegt die Gefahr eines Mißverständ-
nisses sehr nahe. Wir werden nämlich später sehen, daß unser
Theologe den wertvollsten Fortschritt der skotistischen Theologie
über den Intellektualismus des Thomas hinaus, die energische
Betonung des affektiven Charakters der religiösen Erkenntnis und
des religiösen Lebens überhaupt, den metaphysischen Primat des
Willens über den Intellekt, mit Kraft und Erfolg aufgenommen hat.
Hier dagegen ist nicht von dem letzten Ziel des religiösen Erkennens,
sondern von dem wissenschaftlichen Charakter des theologischen
Denkens die Rede3, und es fragt sich, ob Marsilius im Sinne Okkams
bereit ist, auf die Möglichkeit gesicherter, wissenschaftlicher, d. h.
metaphysischer Betrachtungen über den Inhalt des durch einen
religiösen Erkenntnisakt (den Glauben) erfaßten Vorstellungs-
kreises zu verzichten. Wird das Problem so gefaßt, dann kann die
Antwort nicht zweifelhaft sein! Der Metaphysiker Marsilius wird
es gar nicht lassen können, über Gott und die göttlichen Dinge auch
als Christ eine logisch begründete, d. h. eben theologische Er-
kenntnis zu suchen.
Diese höchst interessante Überwindung der die Zeit bewegen-
den Gegensätze begreift sich am einfachsten durch die Annahme
einer unmittelbaren Abhängigkeit von Augustin. Das darf jetzt
schon ausgesprochen werden, obgleich erst der weitere Verlauf
unserer Untersuchung diese Annahme bestätigen muß. Der Name
Augustins ist das Panier, unter dem beide Parteien fechten: die
Vorkämpfer des Willensprimats, wie die Theologen der kontem-
plativen Gottesbetrachtung. Es sind die inneren Widersprüche der
augustinischen Lehre selbst, die in ihrem Streite ausgetragen wer-
den: die starke Betonung der Willensseite des menschlichen Seelen-
lebens hatte den großen Kirchenlehrer doch nicht gehindert, als
1 lib. sent. I, qu. 3, a. 5, Bl. 27, c. 2 1. c. a. 1, Bl. 21, d.
3 Nur in diesem Zusammenhang darf die Stelle gewertet werden: Dilectw
Bei non est praxis sive actio . . . sed pars vite contemplative (1. c. art. 5, CO. 5,
Bl. 26, b), nämlich als Beweis gegen die Notwendigkeit, der Theologie den
theoretischen Charakter abzusprechen. Andernfalls entstünde ein Wider-
spruch gegen 1. II, qu. 22, a. 2, bes. solche Stellen wie: Dilectio [dei] est. actus
voluntatis. (Bl. 338, a, i. f.)