Metadaten

Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0145
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Studien zur Spätscholastik. I.

145

das letzte Ziel des Christen die kontemplative Versenkung in Gottes
Wesen hinzustellen und das menschliche Erkennen mit der Gottes-
erkenntnis in einer tiefsinnig ausgedachten Einheit zu verknüpfen.
Aus dieser traditionell gewordenen Gedankenmasse betonte die
Schule Okkams vorwiegend das praktische Moment zum Schaden
des theoretischen, während der Thomismus unter dem Einfluß des
Aristoteles eher der umgekehrten Einseitigkeit verfiel. Den Mar-
silius sehen wir beiden Motiven der Tradition in seiner Weise
gerecht werden. Die Theologie soll es mit vorwiegend spekulativen
Aufgaben zu tun haben; aber das hindert ihn nicht, der Tätigkeit
des Willens im Bereich des religiösen Lebens prinzipiell den Vorzug
einzuräumen. So bleibt er trotz seiner spekulativen Neigungen
innerhalb der Linie der großen kirchlich theologischen Entwick-
lung, die von der Scholastik zur Reformation hinüberführt. Denn
im Zeichen Augustins begann auch der Umbau des kirchlichen
Gedankensystems, der die Anfänge Luthers bezeichnet, während
die Mystik von Anfang an mehr oder weniger ein Sonderleben inner-
und außerhalb der Kirche geführt hat.
Wenn denn aber nach alledem die Theologie der Metaphysik
so nahe verwandt sein soll, worin besteht dann noch der Unter-
schied der beiden Disziplinen? Darin, daß jene Gott nur insofern
zum Gegenstand hat, als er das Ziel unseres Heilsstrebens ist, die
Metaphysik dagegen denselben Gott in seiner absoluten Bedeutung
als causa prima und independentes Sein. In seiner ganzen Fülle
erfaßt auch die irdische Theologie den Gottesbegriff mit nichten;
das ist erst der Theologie der Seligen möglich. Wir müssen uns
genügen lassen, das für unser Heil von Gott Wissenswerte in der
Offenbarung zu empfangen1. Eine ähnliche Unterscheidung hatte
schon Duns Skotus aufgestellt2; aber Marsilius selbst zitiert diesen
Vorgänger in anderem Sinne3, und die ganz und gar inteil ektua-
listische Fassung seines Glaubensbegriffes zeigt sogleich
wieder eine stärkere Abweichung.
Hier ist jede Erinnerung an das lebendige Ergreifen der gött-
lichen Wirklichkeit, wie es als Erbstück der Franziskaner sich bei
Duns Skotus, wenn auch stark abgewandelt, noch erhalten hatte,
1 lib. sent. I, qu. 2, art. 5, prop. 2 — 3, Bl. 20. Hic terminus deus nequit
esse subiectum [theologie] sub sua ratione essentiali et absoluta et de theologia
nostra. — Deus est subiectum s. theologie, inquantum est finis vite viatoris fide
formata attingibilis. Ferner ibid. no. 6.
2 Vgl. Seeberg, Duns Skotus 126 3 1. c. no. 4, opin. 6.

Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., philos.-hist. Kl 1921. 4. Abh.

10
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften