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Gerhard Ritter:
durch die kirchlich sakramentale Überlieferung erstickt. Zugleich
aber steht an diesem Punkte tatsächlich die im Innersten irreligiöse,
rein weltliche Erkenntnislehre der „Modernen“ dem Verständnis
des religiösen Erlebnisses im Wege. Nicht Gottes Wirklichkeit,
sondern nur der „vertretende Terminus Gott“ ist Gegenstand der
Glaubenserkenntnis1. Die von unserm Philosophen so liebevoll
gepflegte Distinktion zwischen dem unmittelbaren, entfernten und
entferntesten Gegenstand des Wissens (s. o. S. 63) spukt auch in
diese Dinge hinein. Und das Mißverständnis wird auch dadurch
nicht viel gebessert, daß Marsilius zugibt, der „eingegossene Glaube“
gehe unmittelbar von Gott als der prima veritas selber aus, sodaß
— umgekehrt wie im natürlichen Erkennen — die Genesis der
Glaubenserkenntnis mit dem „entferntesten Gegenstand“ des
Wissens anhebt2 3. Der „eingegossene Glaube“ bedeutet ja selber
nicht die lebendige Erfahrung einer Realität, sondern nur die über-
natürlich gewirkte Zuneigung des Verstandes zu gewissen obersten
theologischen Lehrsätzen, über Gottes Dasein, seine E'genschaft
als höchstes Gut und die unfehlbare Richtigkeit seiner Offenbarung
— zu jenen Sätzen also, die wir bereits als die „Prinzipien“ des
theologischen Schlußverfahrens kennen (s. o. S. 142)::!. Und zwischen
den Gläubigen und seinen Gott hat sich das kirchliche Sakrament
mit einer physisch gedachten Wunderkraft eingeschoben: im Sakra-
ment erfolgt jene unbegreifliche Hinwendung des Verstandes zur
Wahrheitserkenntnis, die es bewirkt, daß der kleine Täufling, so-
bald er den Gebrauch seiner geistigen Fähigkeiten erlangt, ohne
weiteres den ihm vorgehaltenen Glaubensartikeln zustimmt4. Das
Mirakel und die Verstandestätigkeit sind an die Stelle getreten,
die das erschütterndste und tiefste menschliche Erleben umschrei-
ben sollte! Der Urvorgang der Gotteserfahrung hat sich in diesem
Stadium der theologischen Überlieferung allmählich zu beängstigend
blassen Formeln verflüchtigt.
Immerhin steckt hinter der fides infusa ursprünglich eine echte
religiöse Idee: der Erdenpilger erfährt die Wahrheit der göttlichen
1 lib. sent. I, qu. 2, art. 5, concl. 1, corell. 3, Bl. 19 v.
2 lib. III, qu. 14, art. 2, no. 3, Bl. 453: Fides infusa immediate et sine
medio est a veritate prima.
3 ibid. art. 2, nota 2, Bl. 453: Fides infusa fidelem inclinat, ui assentiat
propositionibus credendis, ut huic: Deus est trinus et unus usw. — Ausführlicher:
art. 1, pars 3, concl. 1, Bl. 449.
4 ibid. art. 1, pars 3, concl. 1, prob. 3, Bl. 449.
Gerhard Ritter:
durch die kirchlich sakramentale Überlieferung erstickt. Zugleich
aber steht an diesem Punkte tatsächlich die im Innersten irreligiöse,
rein weltliche Erkenntnislehre der „Modernen“ dem Verständnis
des religiösen Erlebnisses im Wege. Nicht Gottes Wirklichkeit,
sondern nur der „vertretende Terminus Gott“ ist Gegenstand der
Glaubenserkenntnis1. Die von unserm Philosophen so liebevoll
gepflegte Distinktion zwischen dem unmittelbaren, entfernten und
entferntesten Gegenstand des Wissens (s. o. S. 63) spukt auch in
diese Dinge hinein. Und das Mißverständnis wird auch dadurch
nicht viel gebessert, daß Marsilius zugibt, der „eingegossene Glaube“
gehe unmittelbar von Gott als der prima veritas selber aus, sodaß
— umgekehrt wie im natürlichen Erkennen — die Genesis der
Glaubenserkenntnis mit dem „entferntesten Gegenstand“ des
Wissens anhebt2 3. Der „eingegossene Glaube“ bedeutet ja selber
nicht die lebendige Erfahrung einer Realität, sondern nur die über-
natürlich gewirkte Zuneigung des Verstandes zu gewissen obersten
theologischen Lehrsätzen, über Gottes Dasein, seine E'genschaft
als höchstes Gut und die unfehlbare Richtigkeit seiner Offenbarung
— zu jenen Sätzen also, die wir bereits als die „Prinzipien“ des
theologischen Schlußverfahrens kennen (s. o. S. 142)::!. Und zwischen
den Gläubigen und seinen Gott hat sich das kirchliche Sakrament
mit einer physisch gedachten Wunderkraft eingeschoben: im Sakra-
ment erfolgt jene unbegreifliche Hinwendung des Verstandes zur
Wahrheitserkenntnis, die es bewirkt, daß der kleine Täufling, so-
bald er den Gebrauch seiner geistigen Fähigkeiten erlangt, ohne
weiteres den ihm vorgehaltenen Glaubensartikeln zustimmt4. Das
Mirakel und die Verstandestätigkeit sind an die Stelle getreten,
die das erschütterndste und tiefste menschliche Erleben umschrei-
ben sollte! Der Urvorgang der Gotteserfahrung hat sich in diesem
Stadium der theologischen Überlieferung allmählich zu beängstigend
blassen Formeln verflüchtigt.
Immerhin steckt hinter der fides infusa ursprünglich eine echte
religiöse Idee: der Erdenpilger erfährt die Wahrheit der göttlichen
1 lib. sent. I, qu. 2, art. 5, concl. 1, corell. 3, Bl. 19 v.
2 lib. III, qu. 14, art. 2, no. 3, Bl. 453: Fides infusa immediate et sine
medio est a veritate prima.
3 ibid. art. 2, nota 2, Bl. 453: Fides infusa fidelem inclinat, ui assentiat
propositionibus credendis, ut huic: Deus est trinus et unus usw. — Ausführlicher:
art. 1, pars 3, concl. 1, Bl. 449.
4 ibid. art. 1, pars 3, concl. 1, prob. 3, Bl. 449.