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Gerhard Ritter:
Erkennenden einmal bewiesen ist, hinterläßt in der Seele ein
gewisses bleibendes Wissen; durch die Summe solcher bleibender
Kenntnisse wird die jides aquisita zum habitus aquisitus1. Der
Glaubensirrtum beruht genau wie der Irrtum des Denkens auf
Fehlern des Schlußverfahrens zwischen Prämissen und Konklu-
sionen2, und wie die Logik (so wird man diesen Gedanken fort-
spinnen dürfen) die Richtigkeit des wissenschaftlichen Denkens
überwacht, so die Theologie die Korrektheit der Glaubenserkenntnis.
Im Hinblick auf ihren ,,inkomplexen“ Gegenstand, auf Gott, kann
die Glaubenserkenntnis gar nicht irren; darin ist sie nicht nur
unendlich viel reicher, sondern auch sicherer als das „natürliche“
metaphysische Erkennen. Zwar ist zuzugeben, daß die wissen-
schaftliche Spekulation auf ihrem ihr eigenen Gebiete dem Wesen
des Verstandes mehr entspricht und insofern in ihren Grenzen eine
höhere Sicherheit-besitzt, als die Glaubensmeinung; aber praktisch
ist dieser Gedanke bedeutungslos, da ja im Konfliktsfall der Glaube
stets die „höhere“ Erkenntnis darstellt3.
Von hier aus läßt sich das Verhältnis der beiden Theologen
Okkam und Marsilius gut übersehen. Was die charakteristische
Eigenart des Engländers ausmacht: die opportunistische Anpas-
sung an den positiven Inhalt der Kirchenlehre, der Verzicht auf
Systembildung in Glaubensdingen, der Unterton von Skepsis gegen-
über der Tragweite des theologisch-metaphysischen Denkens —
das gerade unterscheidet ihn von dem Deutschen. Bei dem ist die
viel straffere und zuversichtlichere Art der älteren Theologen noch
lebendig. Welche ungemein bedeutsame Stelle behauptet für ihn
die Theologie innerhalb des religiösen Lebens! In der Tat: das
Gewand der neuen Erkenntnislehre läßt auch hier wieder den
Thomismus durchscheinen. Und auch die historisch so wirksame
Betonung der biblischen Autorität als der letztlich allein zu-
verlässigen Quelle der Glaubenserkenntnis suchen wir bei Marsilius
vergebens: für seine Denkart war in erster Linie nicht so sehr der
Buchstabe der Offenbarung, als der systematische Zusammenhang
des theologischen Gedankengebäudes als kritischer Maßstab wichtig.
Es hat darum historisch ebensowenig Bedeutung, wenn er gelegent-
1 ibid. concl. 2.
2 1. c. concl. 3 ad arg. opp. 3, Bl. 450, a: Errores acquisiti . . . non pro-
cessu fidei acquiruntur, [sed] eo, quod syllogismi, quibus acquirutitur, peccant. in
materia vel in forma, cum conclusio eorum sit falsa.
3 1, c. art. 3, dub. 4, concl. 2 u. 4, Bl. 452; art. 2, Bl. 453ff.
Gerhard Ritter:
Erkennenden einmal bewiesen ist, hinterläßt in der Seele ein
gewisses bleibendes Wissen; durch die Summe solcher bleibender
Kenntnisse wird die jides aquisita zum habitus aquisitus1. Der
Glaubensirrtum beruht genau wie der Irrtum des Denkens auf
Fehlern des Schlußverfahrens zwischen Prämissen und Konklu-
sionen2, und wie die Logik (so wird man diesen Gedanken fort-
spinnen dürfen) die Richtigkeit des wissenschaftlichen Denkens
überwacht, so die Theologie die Korrektheit der Glaubenserkenntnis.
Im Hinblick auf ihren ,,inkomplexen“ Gegenstand, auf Gott, kann
die Glaubenserkenntnis gar nicht irren; darin ist sie nicht nur
unendlich viel reicher, sondern auch sicherer als das „natürliche“
metaphysische Erkennen. Zwar ist zuzugeben, daß die wissen-
schaftliche Spekulation auf ihrem ihr eigenen Gebiete dem Wesen
des Verstandes mehr entspricht und insofern in ihren Grenzen eine
höhere Sicherheit-besitzt, als die Glaubensmeinung; aber praktisch
ist dieser Gedanke bedeutungslos, da ja im Konfliktsfall der Glaube
stets die „höhere“ Erkenntnis darstellt3.
Von hier aus läßt sich das Verhältnis der beiden Theologen
Okkam und Marsilius gut übersehen. Was die charakteristische
Eigenart des Engländers ausmacht: die opportunistische Anpas-
sung an den positiven Inhalt der Kirchenlehre, der Verzicht auf
Systembildung in Glaubensdingen, der Unterton von Skepsis gegen-
über der Tragweite des theologisch-metaphysischen Denkens —
das gerade unterscheidet ihn von dem Deutschen. Bei dem ist die
viel straffere und zuversichtlichere Art der älteren Theologen noch
lebendig. Welche ungemein bedeutsame Stelle behauptet für ihn
die Theologie innerhalb des religiösen Lebens! In der Tat: das
Gewand der neuen Erkenntnislehre läßt auch hier wieder den
Thomismus durchscheinen. Und auch die historisch so wirksame
Betonung der biblischen Autorität als der letztlich allein zu-
verlässigen Quelle der Glaubenserkenntnis suchen wir bei Marsilius
vergebens: für seine Denkart war in erster Linie nicht so sehr der
Buchstabe der Offenbarung, als der systematische Zusammenhang
des theologischen Gedankengebäudes als kritischer Maßstab wichtig.
Es hat darum historisch ebensowenig Bedeutung, wenn er gelegent-
1 ibid. concl. 2.
2 1. c. concl. 3 ad arg. opp. 3, Bl. 450, a: Errores acquisiti . . . non pro-
cessu fidei acquiruntur, [sed] eo, quod syllogismi, quibus acquirutitur, peccant. in
materia vel in forma, cum conclusio eorum sit falsa.
3 1, c. art. 3, dub. 4, concl. 2 u. 4, Bl. 452; art. 2, Bl. 453ff.