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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0149
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Studien zur Spätscholastik. I.

149

Wir hörten schon seine abweichende Definition der Erkenntnis, die
der ,,eingegossene Glaube“ bewirkt: in erster Linie stand nicht
einfach die Wahrheit des Offenbarungsinhaltes, sondern da fanden
wir jene allgemeinsten Sätze über Gottes Dasein und Wesen, mit
denen die theologische Spekulation anhebt. Wichtiger ist seine
völlig veränderte Auffassung der fides aquisita. Sie besitzt nicht
die geringste Selbständigkeit neben der eingegossenen Erkenntnis.
Eine natürliche Zustimmung zu den Glaubensartikeln einfach auf
Grund des Zutrauens zur biblischen oder kirchlichen Autorität
scheint unser Aristoteliker gar nicht zu kennen; jedenfalls legt er
nicht den geringsten Wert darauf1. Was er fides aquisita im theolo-
gischen Sinne nennt, ist einfach die weitere Ausdeutung der in der
fides infusa begriffenen obersten Wahrheiten, im Sinne des theolo-
gischen Schlußverfahrens oder auch der praktischen religiösen
Einzelerfahrung, und er legt besonderen Wert auf den Nachweis,
daß die Vielheit der auf diesem Wege entstehenden religiösen
Einzelurteile keinerlei Selbständigkeit besitzt2. Es gibt in dem
Gläubigen nur einen Glauben, begründet durch das wunderbare
Erlebnis der Eingießung. Gott selbst ist sein Urheber. Er ver-
leiht in diesem einen Akte die ganze Fülle der Wahrheit. Wohl
kann (nicht muß!) sie der Gläubige nachträglich im einzelnen ent-
wickeln, und insofern erwirbt er sich seinen Glauben3. Aber das
hebt die innere Einheit der religiösen Gedankenwelt mitnichten
auf. Was den Inhalt von Offenbarung und kirchlicher Lehr-
tradition ausmacht, sind nur Teilwahrheiten der einen Erkenntnis
des Glaubens von Gott und den göttlichen Dingen. Es ist dasselbe
Verhältnis wie zwischen den Leitsätzen der Metaphysik und ihren
einzelnen Konklusionen4. Jeder Einzelsatz, dessen Ableitung dem
1 üb. senk III, qu. 14, art. 1, not. 2: Es soll nur von fides infusa die
Rede sein, quod non est nobis magna vis de aliis, nisi quod propter equivocationem
vitandam ponitur distinctio. Als Beispiel der ,,credulitas ex auctoritate“ erscheint
ein Satz der Naturerkenntnis: credo quod lumen movetur in excentrico usw.,
nicht ein religiöser Satz.
2 I. c. art. 1, pars 3, dub. 1, Bl. 449 — 450.
3 ibid. concl. 3: Fides acquisita potest in anima fideli esse multiplices
habitus in specie iuxta multiplicitatem processuum deducentium sibi articulos
diversos credendos.
4 ibid. concl. 1, prob. 6, concl. 2, prob. 1: Sicut est de diversis proposi-
tionibus scibilibus sub eodem universali contentis cognitis per processus scienti-
ficos, ita potest esse de diversis propositionibus credibilibus cognitis per diversos
processus fidei.
 
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