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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0148
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148

Gerhard Ritter:

das persönliche, im Glaubensakt begründete Verhältnis des Sünders
zu Gott zerstört, kommt innerhalb dieser Gedankenreihe gar nicht
in Frage.
Ihre besondere historisch wirksame Gestalt erhält diese Lehre
von der fides infusa bei Okkam durch die starke Betonung der
positiven Offenbarung als Inhalt der Glaubenserkenntnis. Der
Glaube verwirklicht sich immer nur in der Zustimmung zu den
einzelnen Glaubensartikeln, den mannigfaltigen Lehrsätzen der
biblischen und kirchlichen Überlieferung. Die Summe dieser assen-
sus macht den Inhalt der fides aquisita aus. Eine verbindende Ein-
heit oberhalb dieser einzelnen Akte verstandesmäßiger Zustim-
mungen — eine religiöse Lebensentscheidung also — wollte Okkam
nicht auf Grund der Erfahrung, sondern nur mit Rücksicht auf die
kirchliche Lehre annehmen. Die fides infusa soll diese Einheit
darstellen: sie ist im wesentlichen nichts anderes als die allgemeine
Überzeugung von der Wahrheit der Offenbarung, verleiht aber als
solche den einzelnen Akten des assensus erst den Charakter als
Glauben. Die fides aquisita entsteht in dem Menschen auf natürliche
psychologische Weise durch einfaches Vertrauen auf die Glaub-
würdigkeit der biblischen Schriftsteller, und es bezeichnet die
nominalistische Grundstellung Okkams ebensowohl wie die eigen-
tümliche Enge und Nüchternheit seines Glaubensbegriffes, daß er
diese Art von Glauben für allein beweisbar, d. h. mit natürlichen
Mitteln erfahrbar hält; die psychologische Tatsache einer fides
infusa betrachtet er als übervernünftig. In der Tat: wenn der
Nachdruck der theologischen Betrachtung auf diese natürliche
psychologische Vermittlung der Glaubenserkenntnis in der gut-
willigen Hinnahme der kirchlichen Lehrartikel gelegt wurde, so
mußte ein ganz unspekulativer Positivismus des religiösen Denkens
die Folge sein. „Nicht Gott, sondern die Bibel ist für Okkam das
direkte Objekt des religiösen Glaubens1.“ Es gilt als ein historisch
besonders bedeutsames Kennzeichen der „modernen“ Schul-
theologie, daß sie den Offenbarungsglauben nicht auf Vernunft
und nicht auf intuitive Schau, sondern auf die Bibel begründet
hat. In der lutherischen Dogmatik, sagt man, sei noch die
Wirkung davon zu spüren.
Um so interessanter ist die Abweichung des Marsilius von
dieser Lehre. Sie bestätigt durchaus unsere bisherigen Eindrücke.

1 Seeberg, Dogmengeschichte III3, 620.
 
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