Gerhard Ritter:
stärker tritt jenes andere Moment seines Denkens hervor, dem wir
schon einmal, bei den Lehren von der Schöpfung und Erhaltung
(oben S. 106) begegnet sind: die augustinische Vorstellung von der
Unbeschränktheit der göttlichen Allmacht, verbunden mit der -
jetzt erst hinzutretenden, aber bereits oben (S. 144) angedeuteten -
Lehre vom Primat des Willens über den Verstand. Von hier aus
verschiebt sich allmählich das ganze Bild. Beide Ideen gehörten
zu den Leitmotiven der skotistisch-okkamistischen Schule. Aber
die Art, wie sie Marsilius miteinander und mit dem Ganzen seiner
Theologie in Einklang bringt und psychologisch zu begründen
weiß, enthält doch wieder so viel Eigenes, daß die Erörterung dieser
Dinge unbedenklich als der wertvollste Bestandteil seiner gesamten
philosophisch-theologischen Arbeit gelten kann. Um hier auf festen
Grund zu kommen, ist eine Abschweifung in die psychologische
Theorie vom Willen und der Willensfreiheit nicht zu um-
gehen.
Für diese Fragen stehen zwei besonders ausführliche Quä-
stionen des Sentenzenkommentars (II, 16 u. 22) zur Verfügung,
deren Lektüre sogleich eine Überraschung bringt: an Stelle des
üblichen, vorwiegend logischen Hin- und Herwendens der Gedanken
findet sich hier eine solche Fülle lebendiger und scharfsinniger
Beobachtung, eine so unbefangene Auffassung der psychologischen
Wirklichkeit, daß man sofort empfindet: hier bewegt sich der
Autor auf dem Boden wohlvertrauter Erfahrung. In der Tat ist
die psychologische Erforschung des Willensproblems — nach dem
Urteil Siebecks1 — die klassische Leistung der nominalistischen
Schule, in der sie einen ,,innerhalb des Zeitraums von Augustin bis
zu und nach Leibniz herab“ sonst unerreichten Höhepunkt erklom-
men und der modernen Psychologie die fruchtbarsten Anregungen
gegeben hat.
Im einzelnen erinnern die Ausführungen des Marsilius, wie
Siebeck gezeigt hat2, am stärksten an Buridan, der als „eigent-
licher psychologischer Fachmann“ unter den Okkamisten zu gelten
habe. Die radikale Einseitigkeit, mit der Duns den Vorrang des
Willens über den Intellekt verfochten hatte, ist hier zugunsten
einer sorgfältig abwägenden und eindringenden Untersuchung über
das Zusammenwirken der beiden Seelenkräfte überwunden. Die
augustinische Einheit der Seele, der gegenüber die verschiedenen
1 Zs. für Phil. u. philos. Kritik. N. F Bd. 112 (1898), p. 215.
2 ibid. 207.
stärker tritt jenes andere Moment seines Denkens hervor, dem wir
schon einmal, bei den Lehren von der Schöpfung und Erhaltung
(oben S. 106) begegnet sind: die augustinische Vorstellung von der
Unbeschränktheit der göttlichen Allmacht, verbunden mit der -
jetzt erst hinzutretenden, aber bereits oben (S. 144) angedeuteten -
Lehre vom Primat des Willens über den Verstand. Von hier aus
verschiebt sich allmählich das ganze Bild. Beide Ideen gehörten
zu den Leitmotiven der skotistisch-okkamistischen Schule. Aber
die Art, wie sie Marsilius miteinander und mit dem Ganzen seiner
Theologie in Einklang bringt und psychologisch zu begründen
weiß, enthält doch wieder so viel Eigenes, daß die Erörterung dieser
Dinge unbedenklich als der wertvollste Bestandteil seiner gesamten
philosophisch-theologischen Arbeit gelten kann. Um hier auf festen
Grund zu kommen, ist eine Abschweifung in die psychologische
Theorie vom Willen und der Willensfreiheit nicht zu um-
gehen.
Für diese Fragen stehen zwei besonders ausführliche Quä-
stionen des Sentenzenkommentars (II, 16 u. 22) zur Verfügung,
deren Lektüre sogleich eine Überraschung bringt: an Stelle des
üblichen, vorwiegend logischen Hin- und Herwendens der Gedanken
findet sich hier eine solche Fülle lebendiger und scharfsinniger
Beobachtung, eine so unbefangene Auffassung der psychologischen
Wirklichkeit, daß man sofort empfindet: hier bewegt sich der
Autor auf dem Boden wohlvertrauter Erfahrung. In der Tat ist
die psychologische Erforschung des Willensproblems — nach dem
Urteil Siebecks1 — die klassische Leistung der nominalistischen
Schule, in der sie einen ,,innerhalb des Zeitraums von Augustin bis
zu und nach Leibniz herab“ sonst unerreichten Höhepunkt erklom-
men und der modernen Psychologie die fruchtbarsten Anregungen
gegeben hat.
Im einzelnen erinnern die Ausführungen des Marsilius, wie
Siebeck gezeigt hat2, am stärksten an Buridan, der als „eigent-
licher psychologischer Fachmann“ unter den Okkamisten zu gelten
habe. Die radikale Einseitigkeit, mit der Duns den Vorrang des
Willens über den Intellekt verfochten hatte, ist hier zugunsten
einer sorgfältig abwägenden und eindringenden Untersuchung über
das Zusammenwirken der beiden Seelenkräfte überwunden. Die
augustinische Einheit der Seele, der gegenüber die verschiedenen
1 Zs. für Phil. u. philos. Kritik. N. F Bd. 112 (1898), p. 215.
2 ibid. 207.